Das Aion - Kinder der Sonne
respektvollen Abstand zu dem Ballonleib. Selbst wenn es sich bei der Ambodruse nur um eine zerstörte Maschine handelte, sahen ihre Überreste echt genug aus, um ihr eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken zu jagen. Daher setzte sie sich in sicherer Entfernung auf den Kamm der Düne, von wo aus sie beide Hänge im Auge behalten konnte.
Als Ben das Ende des Tentakels erreicht hatte, stand er eine Weile verwundert davor. Dann ließ er sich auf die Knie nieder, als hätte er tatsächlich vor, in das stachelige Maul hineinzukriechen. Als Ben plötzlich nicht mehr zu sehen war, hielt Mira erschrocken die Luft an. Das Ende des Fangarms bewegte sich ruckartig. Es sah aus, als würden seine dornengespickten Kiefer kauen …
»Ben?«, rief Mira hinab in den Kessel. Als sie keine Antwort erhielt, sprang sie beunruhigt auf. »Ben!?«
Dr. Gayot und Jiril unterbrachen ihre Diskussion und blickten zu ihr herüber. »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich der Doktor.
Anstatt zu antworten, lief Mira in den Krater hinab. Kurz bevor sie das Ende des Fangtentakels erreicht hatte, blieb sie einen Moment stehen. »Ben …?«, fragte sie noch einmal leise, dann schlich sie mit klopfendem Herzen vorsichtig um den Fangarm herum.
Das Erste, was sie von ihm sah, waren seine zuckenden Füße. Aus dem Maul des Tentakels drang ein Stöhnen, dann steckte Ben plötzlich seinen Kopf hervor. Sein Gesicht war vor Anstrengung rot angelaufen, auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen.
»Hallo«, sagte er. »Ist der Doktor bei dir?«
Mira schüttelte den Kopf. »Bist du okay?«
Natürlich, erklang seine Stimme in ihrem Kopf. »Keine Sorge«, fügte er schließlich vernehmbar hinzu. »Schau her.«
Vorsichtig äugte Mira in das vermeintliche Tentakelmaul. Es war weder haarig noch dornengespickt. Ben hockte auf einem glatten Wulst, der an einer massiven, leicht gewölbten Glasscheibe endete. Es dauerte nicht lange, bis sich auch Jiril und Dr. Gayot hinzugesellt hatten. Gemeinsam standen sie schließlich um das Ende des Tentakels herum und staunten über eine Kameralinse von fast einem Meter Durchmesser.
»Sieht aus wie ein altes Teleobjektiv mit Augenmuschel«, bemerkte der Doktor.
»Für mich sieht es lediglich nach Materialverschwendung aus«, sagte Jiril. »Was soll eine derart monströse Kamera leisten können, was eine kleine nicht kann? Doch wohl kaum größere Aufnahmen schießen.« Er wandte sich um. »Apropos monströs …« Ohne auf die anderen zu warten, lief er hinab zum Rand der riesigen Schachtöffnung. Dann stemmte er sich mit den Armen von der Brüstung ab, sprang in die Höhe und schwang ein Bein über die Metallwand.
»Nein!«, riefen Ben, Mira und der Doktor im Chor.
Jiril rutschte wieder herab und sah grinsend zu ihnen herauf. »War nur ’n Scherz, Leute.«
»Sehr lustig«, brummte Ben. Und an Mira gewandt fügte er telepathisch hinzu: Du kannst dir gar nicht vorstellen, was dieser Blödmann mich an Nerven kostet.
Das Mädchen musste grinsen. »Warum habt ihr ihn dann mitgenommen?«, fragte sie so leise, dass nur Ben es hören konnte.
Weil er nun mal ein verdammt guter Pilot ist, gestand Ben.
Früher hatte Mira auf ihrem Weg zu den Gärten im alten Hangar oft ihren Vater in den Plantagen besucht und dabei manchmal in einen der frisch ausgehobenen Brunnenschächte blicken dürfen, die von den Bohrdrohnen der Driller gegraben worden waren. Schon damals hatte sie die Vorstellung gegruselt, in die Tiefe zu stürzen und für immer in der Dunkelheit zu verschwinden. Als sie sich nun jedoch über die Metallbrüstung zog, um einen Blick in den Produktionsschlot zu werfen, bekam das Wort »Tiefe« für sie eine völlig neue Dimension – und ebenso der Begriff »Angst«.
Das Erste, was Mira auffiel, war die beklemmende Stille. Kein einziges Geräusch drang aus der Tiefe des Schachts empor. Seine Wände bestanden komplett aus Metall und waren fugenlos glatt. Lediglich in zehn bis zwölf Metern Tiefe befand sich eine etwa anderthalb Meter große Lücke, in der die Wände einen halben Meter nach hinten versetzt waren. Sie sah aus wie ein niedriger Wartungsgang, besaß aber weder ein Geländer noch eine Tür, über die man ihn hätte betreten können. Unmittelbar darunter begannen vier gleichmäßig verteilte, vertikale Spalten, die ohne Unterbrechung lotrecht in die Tiefe führten.
Obwohl die Sonne noch relativ hoch stand und der Schlot gut 30 Meter breit war, war sein Ende nicht zu erkennen. Mira konnte ihrer
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