Das Aktmodell
lächelte ihm zu. War es Überraschung und dann Dankbarkeit, was er darin entdeckte, als er zurücklächelte?
Er hatte keine Zeit, das herauszufinden. Lillie forderte ihre Rechte ein und bestand darauf, dass Paul sie für ihre Dienste mit ein paar zusätzlichen Francs entlohnte, was er auch tat. Anschließend beschimpfte sie ihn, dass er sie heute Nacht nicht den Hengst hatte reiten lassen.
Auch für die Rothaarige fand Lillie die passenden Abschiedsworte: “Es ist noch nicht vorbei zwischen uns, Mademoiselle. Ich vergesse niemals ein Gesicht.”
“Ich hingegen finde dein Gesicht nicht besonders unvergesslich”, konterte die Rothaarige.
Paul bemerkte, dass Lillie sich kaum noch beherrschen konnte, aber sie wusste, wann sie sich zurückziehen musste. Besonders nachdem er ihr die Extraentlohnung ins Bustier gesteckt hatte. Sie schürzte ihre karminroten Lippen und zischte die Rothaarige an, die aber nicht einmal zuckte. Dann war Lillie verschwunden, und nur ihr Geruch hing noch eine Weile in der Luft. Er war unaufdringlich, aber doch stark genug, dass Paul ihn nicht vergessen konnte.
“Merci, Monsieur, vielen Dank”, sagte das Mädchen, und ihr Gesicht rötete sich. “Ich habe mich von meinem Ärger überrollen lassen, als dieses Frauenzimmer anfing, mich zu beleidigen. Aber ich konnte nicht anders. Ich habe das Gefühl, die Hauptdarstellerin in einem schlechten französischen Horrorfilm zu sein.”
“In einem Film, Mademoiselle?”
“Ja, in einem Film. Einem billigen Streifen.” Sie zuckte die Schultern. “Wahrscheinlich sind Filme noch nicht erfunden.”
Sie gab ihm keine weitere Erklärung, und er fragte auch nicht nach. Eine aggressive Stimmung lang in der Luft. Es roch nach mehr Ärger, das spürte er instinktiv.
“Dort drüben ist die Diebin!”
Paul sah den dicken und hässlichen Monsieur Renard, wie er sich einen Weg durch eine Gruppe von Händlern bahnte, die sich um ihn geschart hatten. Seine fleischigen Finger zeigten in Richtung der Rothaarigen.
“Ich werde diese hübsche Diebin fangen, Monsieur”, sagte ein anderer Mann. “Anschließend werde ich sie nackt ausziehen und ihren wunderschönen Körper öffentlich zur Schau stellen.”
Paul schaute sich um, wer das gesagt hatte. Die Drohung kam von einem merkwürdig aussehenden jungen Gentleman, der sehr teuer gekleidet und offensichtlich betrunken war. Er sprach Französisch mit einem starken englischen Akzent. An seinem Arm hing eine hübsche junge Frau, deren entblößte Schultern sich an seinem weißen Hemd rieben. Der junge Engländer wischte sich mit der Hand über den Mund und fasste sich dann zwischen die Beine. Dabei ließ er die Rothaarige keine Sekunde aus den Augen.
Paul umfasste den Griff seines Spazierstocks fester. Konnten diese Idioten nicht sehen, dass das Mädchen zu ihm gehörte? Er hielt sie noch fester an der Hand und versuchte sie unter seinem Umhang vor den neugierigen Blicken zu verbergen. Ihre Hand fühlte sich warm an, aber ihr Puls schlug sehr schnell. Es war seine Aufgabe, sie zu beschützen und sie an einen Ort zu bringen, an dem sie sicher war und von dem nur er allein wusste.
“Lasst mich los, Monsieur, bevor mein Traum sich in einen Albtraum verwandelt”, bettelte die Rothaarige und sah ihn dabei mit ihren wunderschönen grünen Augen an. Paul betrachtete ihr Gesicht. Er war fasziniert von der perfekten Linie ihrer Lippen, mit denen sie die Laute ihres merkwürdigen Akzents formte.
“Solange Ihr mit mir zusammen seid, Mademoiselle, kann Euch niemand etwas anhaben. Das verspreche ich Euch. Schnell, folgt mir.”
Paul ignorierte das Zetern von Renard und das Klagen, Fluchen und schlechte Französisch des Engländers. Zielgerichtet eilte er durch die mit Marktständen gefüllte Halle. Das Mädchen hatte er in seinen Umhang gewickelt, und sie passte sich seinem Tempo an. Aus dem Augenwinkel beobachtete er sie.
Ihre Blicke begegneten sich, und sein Herz begann zu rasen. Sie verzauberte ihn wie die grüne
enchantresse
, die grüne Absinth-Fee, die durch seine Adern rauschte und ihn aus seinen dunklen Depressionen riss.
Er atmete langsam aus, als sein Blick über die erblühenden Kurven des Mädchens glitt. Eine Welle kreativer Inspiration überkam ihn und weckte eine tiefe Sehnsucht. Es drängte ihn, die Seele dieser Frau auf seine Leinwand zu bannen. Ihre strahlend weiße Haut, die ihn verzauberte, ihr sinnlicher Schmollmund. Das verhaltene Verlangen in ihren Augen. Ihr Gesicht, eine verlockende
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