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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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›Mongoz‹ nennen.«
    Die alte Frau gab sich Mühe, nicht zu lächeln.
    »Und das Schlimmste ist«, fuhr Skimpole fort,
»dass ich … gesundheitlich nicht auf der Höhe bin. Ich hätte Sie schon
gestern aufsuchen sollen, aber ich fühlte mich so unendlich matt.«
    »Und wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte die
Archivarin schließlich, als sie spürte, wie ernst der Besucher seine Lage
einschätzte.
    »Ein Schritt der Verzweiflung, fürchte ich. Ich
muss unbedingt mit bestimmten Personen in Verbindung treten.«
    »Mit wem?«
    »Ich werde ihre Namen hier nicht aussprechen, aber
Sie wissen, wen ich meine.«
    »Ich nehme es an.«
    »Ich brauche das Verzeichnis.«
    »Stehen die Dinge wirklich so schlimm?«
    »Noch schlimmer.«
    Die Archivarin versuchte, ihn zu warnen. »Es wird
Ihnen nicht möglich sein, sie unter Kontrolle zu halten.«
    »Ich bitte Sie inständig!«
    »Mister Skimpole, sie sind unglaublich gefährlich!
Sie verursachen nur Chaos und Zerstörung! Niemand hat sie je eingesetzt, der
unbeschadet davongekommen wäre!«
    Jemand hustete; das Kind.
    »Bitte!«, flehte Skimpole. »Mein Sohn ist krank.«
    Die Alte seufzte. »Also kommen Sie mit.« Sie ging
voran ins ewige Halbdunkel der hinteren Räume. »Ich halte es stets unter
Verschluss. Es steht auf der Verbotsliste des Innenministeriums, das wissen
Sie. Ein Schwarzbuch. Meiner Meinung nach verkörpert es selbst hier eine
Gefahr.« Sie blieb vor der Glastür eines Schranks stehen, öffnete das Schloss
mit dem Schlüssel, der von ihrem Hals hing, und nahm ein schmales
ledergebundenes Buch heraus. »Ich hatte gehofft, es nie wieder hervorholen zu
müssen.«
    Skimpole riss es ihr fast aus der Hand. »Ich bin
Ihnen so dankbar!«
    »Alles, was Sie brauchen, steht hier drinnen. Aber
seien Sie vorsichtig. Sie werden lügen und sich alle Mühe geben, Sie
reinzulegen. Was Sie auch immer von ihnen verlangen, sie werden es so drehen,
dass es zu ihrem eigenen Vorteil ist!«
    Aber ihre Warnung fiel auf taube Ohren; der Albino
und sein Sohn hatten ihr schon den Rücken zugedreht und kämpften sich lautstark
die Stufen nach oben.
    Als die Archivarin den Schrank wieder versperrte,
verspürte sie plötzlich die eisige Gewissheit, dass sie Mister Skimpole zum
letzten Mal gesprochen hatte.
    Das imposante Foyer von
Love, Love,
Love und Love
hatte die Ausmaße und die Form eines Ballsaals; sein
Fußboden bestand aus Marmor, und es war erfüllt von nichts als Widerhall und
Leere. In der Mitte des Raums befand sich eine kunstvolle Einlegearbeit im
Boden; Moon und dem Schlafwandler fehlte der notwendige Abstand, aber hätten
sie es von einem höheren Punkt aus betrachtet – etwa aus der
sprichwörtlichen Vogelperspektive – wäre ihnen das Bild sofort bekannt
vorgekommen: eine Blume mit fünf schwarzen Blütenblättern, ausgeführt in Marmor
und dunklem Stein. Am anderen Ende des Saals – in dem sich keines jener
wirbelnden Paare zeigte, für die er offensichtlich vorgesehen war – saß
als kleiner dunkler Punkt ein Männchen hinter einem Empfangstisch.
    Es sah auf, als Moon und der Riese eintraten und
warf ihnen einen flüchtigen Blick zu, bevor es die beiden mit jenen abfällig
herabgezogenen Mundwinkeln, die Menschen seines Schlages kennzeichnen, als
belanglos abtat. Das Klack-klack ihrer Schuhe tönte laut und aufdringlich wie
Pistolenschüsse, als Moon und der Schlafwandler auf ihn zuschritten. Der kleine
Mann schnalzte missbilligend mit der Zunge.
    »Mein Name ist Edward Moon.«
    »In der Tat?«, fragte der Mann höflich – ja
geradezu übertrieben höflich; dennoch gelang es ihm, den Eindruck zu
vermitteln, dass er für alle, die auf der falschen Seite seines Tisches
standen, nichts als tiefste Verachtung übrig hatte.
    »Ich möchte eine Ihrer Angestellten sprechen«,
erklärte Moon.
    »Oh?« Die Ungläubigkeit im Tonfall des Mannes
legte nahe, dass Moon so etwas wie eine Privataudienz im Vatikan gefordert
hatte. »Hat der Herr einen Termin?«
    »Nein.«
    »Dann bin ich leider nicht in der Lage, Ihnen zu
helfen.«
    »Es handelt sich um meine Schwester …«
    »Hier bei
Love
, Sir, benötigt man auch
dann einen Termin, wenn man seine Schwester besuchen möchte.« All das gab er in
dem gleichen kühlen, aufreizend mechanischen Tonfall von sich – völlig
ausdruckslos und trotzdem mit einem Hauch kaum verhüllter Belustigung.
    Moon ließ nicht locker. »Kann ich einen Termin
vereinbaren?«
    »Selbstverständlich, Sir.« Mit einer schwungvollen
Gebärde legte er

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