Das Albtraumreich des Edward Moon
begeisterten Aufschrei nicht
unterdrücken: »Endlich!«
Der Schlafwandler wirkte weniger erfreut –
vielleicht ahnte er bereits, wo sie hineingeraten waren.
»Edward!« Die Stimme hallte durch den Raum.
Moon fuhr herum. Eine wundervoll vertraute Gestalt
stand dort vor ihnen.
»Ich bin so froh, dass du es geschafft hast.«
Moon lachte in einer Mischung aus Dankbarkeit und
Erleichterung. Möglicherweise stand ihm sogar das Wasser in den Augenwinkeln.
»Charlotte! Gott sei Dank! Geht es dir gut?«
Sie ging auf ihn zu und schenkte ihm ein
glückseliges Lächeln. »Sehr gut. Eigentlich ging es mir noch nie besser. Ich
wäre dir jedoch dankbar, wenn du mich nicht mehr bei meinem alten Namen
nennst.«
Der Schlafwandler warf Moon einen besorgten Blick
zu.
»Beim alten Namen?«, wiederholte Moon bedachtsam,
als könnte er es durch eine sorgfältige Wahl seiner Worte ermöglichen, die
rasch einsetzende Erkenntnis der Wahrheit hinauszuzögern.
»Diese Frau ist tot«, erklärte seine Schwester
fröhlich. »An ihrer Stelle wurde ich neu geboren. Von jetzt an musst du mich
Love nennen.«
Moon war entsetzt. »Charlotte!«
»Da ist jemand, den ich dir vorstellen möchte.«
Moon tat einen sachten Schritt rückwärts, so als
würde er vorsichtig vor einem wilden Tier zurückweichen, für das jede
plötzliche Bewegung ein Ansporn zum tödlichen Angriff sein könnte. »Ach ja? Und
wer ist das?«
»Er ist ein sehr, sehr guter Freund. Ein
großartiger Führer. Ein Held. Und meine Erleuchtung.«
Schließlich fing Moon an zu begreifen, was im
Gange war. »Dann ist er der Mann, der hinter allem steckt!«, rief er
zornentbrannt. »Die treibende Kraft hinter den Morden an Cyril Honeyman und
Philip Dunbar! Der Drahtzieher hinter den Angriffen auf das Direktorium und der
Verschwörung gegen die Stadt!«
»Du wirst ihn mögen«, versicherte ihm Charlotte
liebenswürdig. »Ich bin sicher, ihr werdet bestens miteinander auskommen.«
»Was haben sie nur mit dir angestellt?«
Sie blickte hoch. »Er ist jetzt hier, Edward. Er
wird dir alles erklären.«
Ein Fremder glitt auf den Balkon. Er hatte draußen
den rechten Augenblick abgewartet, um seinem Auftritt die höchstmögliche Dramatik
zu verleihen. Er war schlank und schmalgesichtig, ein unauffälliger kleiner
Mann mit Pockennarben und Falten. Doch trotz dieser Unzulänglichkeiten fehlte
ihm nicht eine gewisse, angeborene Würde. Als er sprach, war seine Stimme weich
und tief und schien zu vibrieren, was ihr eine nahezu hypnotische Wirkung
verlieh. Es war die Stimme eines Mannes, der es gewohnt war, dass man ihm
gehorchte, ohne Fragen zu stellen – dass jede seiner Äußerungen mit
Ehrfurcht und Respekt aufgenommen wurde.
»Mein Name«, sagte ich, »ist Reverend Doktor Tan.«
Aber Sie, lieber Leser, kennen mich
gewiss besser als Ihren Erzähler.
ACHTZEHN
Ich fürchte, ich bin nicht ganz ehrlich
zu Ihnen gewesen.
Natürlich sagen Sie jetzt, ich hätte von Anfang an
aufrichtig sein müssen, Ihnen reinen Wein einschenken und auf Seite Eins ein
offenes Geständnis ablegen müssen. Aber setzen Sie Ihren Richterspruch noch ein
wenig aus; verurteilen Sie mich nicht, weil ich ein paar unwichtige Details
oder ein, zwei Namen bei mir behalten und einige Kleinigkeiten zurechtfrisiert
habe.
Meine wahre Identität habe ich Ihnen deshalb nicht
enthüllt, weil ich vermeiden wollte, dass Sie denken,
Das Albtraumreich des
Edward Moon
wäre ein parteiischer, verzerrt dargestellter Bericht. Der
Großteil dessen, was Sie gelesen haben, entspricht der reinen, ungetrübten
Wahrheit. Wo ich ein wenig ausgeschmückt oder geglättet habe, gestand ich das
sofort; wo ich mir eine Erfindung geleistet habe, gab ich das unumwunden zu.
Dennoch mag es sein, dass Sie eine leichte
Unausgeglichenheit in meiner Darstellung einer bestimmten Gestalt dieses Buches
wahrgenommen haben. Ich habe mich nach Kräften bemüht, ihn so objektiv zu
beschreiben, wie ich nur konnte, aber – bei Gott – wie ich diesen
Mann am Schluss hasste!
Doch als wir beide uns in der großen Halle im
Untergrund von
Love, Love, Love und Love
wieder trafen, tat ich
nichtsdestoweniger mein äußerstes, höflich zu bleiben und der Versuchung zu
widerstehen, Häme oder Schadenfreude zu zeigen.
»Mister Moon. Wie schön, dass Sie es einrichten
konnten.«
»Kennen wir uns?«
»Edward!«, schalt ich ihn, »wie können Sie es
vergessen haben!«
»Reverend Doktor Tan«, antwortete er (in einem,
wie ich anmerken muss, unnötig
Weitere Kostenlose Bücher