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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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schon fasziniert mich das
unterirdische London – sein verborgenes Souterrain –, ja eigentlich
alle dunklen Orte dieser Erde. Und so schufen Donald McDonald und ich, nachdem
wir
Love, Love, Love und Love
den Fängen seines widerlichen Gründers
entrissen hatten, eine ganze Welt unter unserem Hauptquartier. Wir ließen große
Gewölbe und Grotten aus dem Untergrund hauen, die Versteck und Zufluchtsort vor
dem Trubel der Welt oben sein sollten.
    Ich führte Moon und den Schlafwandler zurück zum
Balkon über der großen Halle, die sich mittlerweile mit meinen Leuten gefüllt
hatte – Männer und Frauen, Schulter an Schulter, dicht gedrängt von einer
Wand zur anderen. Der Saal brodelte vor Leben, vor überströmender
Liebe
.
Vor uns standen die Armen Londons, die Hässlichen und Verkrüppelten, die
Mittellosen, die Zerlumpten und die Hoffnungslosen, die Mühseligen und
Beladenen – die Menschen am Rande der Gesellschaft, die Fußnoten der
Stadt. Bei meinem Erscheinen ging ein Jubelschrei durch die Menge, den ich, so
gut es ging, mit einer bescheidenen Verbeugung und einer abwehrenden Geste
meiner Hand quittierte.
    Moon starrte hinab auf das Gedränge und versuchte
zweifellos, seine Schwester oder Thomas Cribb oder Mister Speight darin
auszumachen.
    »Ein Albtraumreich, wie Cribb gesagt hat«,
murmelte er bestürzt. »Und so viele! Ich hatte keine Vorstellung, dass es so
viele sein könnten.«
    »
Love
in seiner Gesamtheit«, erwiderte
ich, unfähig (das gestehe ich), meinen Stolz ganz zu verbergen. »Die
Fußsoldaten der Pantisokratie.«
    »Soldaten?« Moon klang wieder aufsässig. »Wozu
sollte ein Paradies Soldaten brauchen? Und wozu die viele Gewalt? Warum die
Toten? Weshalb nehmen Sie nicht einfach Ihre Anhänger und gehen? Bauen Ihr Eden
an den Ufern des Susquehanna und lassen den Rest der Menschheit in Ruhe?«
    Ich schüttelte innerlich den Kopf über die
Begriffsstutzigkeit des Mannes. »Des Susquehanna?« Ich bemühte mich, meine
Verachtung nicht in meine Stimme einfließen zu lassen. »Glauben Sie wirklich,
wir gehen nach Amerika?«
    »Das war doch Coleridges Vorsatz, oder?«
    »Amerika ist ungeeignet. Moralisch verkommen.«
    »Und wohin dann?«
    »Wir bleiben hier, Edward. Hier in der Stadt.«
    »Ich dachte, Sie hassen London?«
    »Keine Stadt ist unrettbar verloren. Wir werden
sie wieder aufbauen. Neu beginnen. Eine neue Stadt haben, in der wir als wahre
Pantisokraten leben können. Ich gebe London eine zweite Chance.«
    »Und was geschieht mit denjenigen, die sich als
unbrauchbar für Ihr Utopia erweisen?«
    Ich musste aufrichtig sein. »Man wird sie dem
Schwert überantworten.«
    Moon sagte etwas Vorhersehbares über meinen
Geisteszustand. Ich nannte ihn kurzsichtig und erklärte ihm geduldig, dass wir
die Stadt von Grund auf reinigen und einen neuen Anfang machen würden.
    »Was würde denn Ihr heißgeliebter Coleridge von
alldem halten? Ich bezweifle, dass er jemals ein solches Blutvergießen
zugelassen hätte!«
    Ich spürte, wie sich ein hysterischer Lachanfall
in mir aufbaute, und nur mit übermenschlicher Willensanstrengung gelang es mir,
mich zu beherrschen. Mit ruhiger Stimme teilte ich Moon mit, dass ich ihn nun
meinem Vorgesetzten, dem Präsidenten des Verwaltungsrats vorstellen wollte.
    »Ich dachte, Sie wären der Allmächtige hier«, fuhr
er mich an.
    Ich antwortete nicht, verließ stattdessen den
Balkon und führte die beiden aus der Halle und tiefer in das unterirdische
Tunnelsystem, hinab in die untersten Ebenen zu einem großen versperrten Raum,
der sich im unzugänglichsten Teil von
Love
befand – zu unserem
Allerheiligsten. Die Tür war mit Schlössern und Ketten gesichert, und ein
kleines Schild war alles, was das Dahinterliegende als dem
    Präsident des Verwaltungsrates
    gehörendes Reich auswies. Ich sperrte
die Tür auf und geleitete meine Gäste über die Schwelle. Ganz offensichtlich
hatten sie nichts so Grandioses erwartet wie das, was sich ihren Augen nun bot.
Selbst ich, der an den Anblick eigentlich längst gewöhnt sein sollte, versäumte
nie, davon beeindruckt und aufgewühlt zu sein: Eine gewaltige Metallkugel
füllte den Raum, ein großes Ei aus Eisen, in das in gleichmäßigen Abständen
gläserne Luken eingelassen waren, gegen die innen eine gelbliche, sirupartige
Flüssigkeit schwappte. An einer Seite war eine kleine Dampfmaschine angebracht,
deren offene Betriebsteile ein nacktes Skelett bildeten, von wo aus sich
Schläuche und metallene Leitungen zu dem Ei

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