Das Albtraumreich des Edward Moon
Meisters entwischt war – gerade noch
an der Grenze zum Dreidimensionalen und so bizarr, dass man seinen Augen kaum
traute. Einmal hatte er sogar einen Blick auf Dedlock werfen können, wie dieser
nackt durch den Rauchsalon stolziert war. Dass Dedlock von allen Anwesenden
noch am normalsten ausgesehen hatte, sagte alles über die anderen Mitglieder.
Barge probierte die Klinke zu Dedlocks Zimmer; es
war nachlässigerweise nicht versperrt, und die Tür ging klaglos auf. Eines der
höchsten Tiere des Direktoriums lag flach hingestreckt auf seinem Bett,
schwitzte, wälzte sich herum und murmelte im Schlaf. Laken waren über seinen
nackten Körper geworfen, und die dicken Enden seiner Brustnarben leuchteten
selbst im Halbdunkel noch weiß. Das Bett stand nahe an einem großen
Erkerfenster, dessen Gardinen sich ganz leicht in der Morgenbrise bauschten.
Während Barge zum Bett ging, griff er in seine
Tasche und zog etwas heraus, das aussah wie das Skalpell eines Chirurgen.
Gleichmütig wie ein Zahnarzt vor der zwölften Behandlung des Tages beugte er
sich über sein Opfer.
Im Laufe seiner Karriere hatte Arthur Barge
vierunddreißig Männer, dreizehn Frauen und zwei Kinder (Zwillinge) getötet. In
dieser Zeit hatte er gewisse Gewohnheiten entwickelt, abergläubisch festgelegte
Vorgangsweisen, von denen die wichtigste darin bestand, seinen Opfern immer
erst in die Augen zu schauen, bevor er ihren Lebensfaden abschnitt. Es machte
die Sache viel realer, fand er, verlieh ihr einen pikanten Beigeschmack.
Mit seiner freien Hand rüttelte er Dedlock wach.
Die Lider des Mannes flatterten und öffneten sich. Triefäugig und benommen
wollte er sich hochkämpfen, nur um mit einer leichten Handbewegung wieder
zurückgestoßen zu werden. Darauf schlug er wild um sich und schickte sich an zu
schreien, doch Barge hielt ihm das Messer vor die Augen, und so erstarrte
Dedlock. Gottergeben wie eine Kuh vor dem Schlächter und im Bewusstsein, dass
er der Klinge nicht entgehen konnte, rührte er sich nicht mehr. Barge legte das
Skalpell an die Kehle des Mannes, den er aufs Korn genommen hatte, und freute
sich schon darauf, seiner persönlichen Opferbilanz ein weiteres hinzufügen zu
können – wobei er sich fragte, wie hoch die Statistik bis zu seinem
Ruhestand noch klettern würde –, als, begleitet von einem gewaltigen
Splittern von Glas, etwas durch das Fenster krachte.
Besser gesagt, ein doppeltes Etwas.
Nachdem sie sich aus der Gardine befreit und
flüchtig die Glasscherben von den Kleidern gestreift hatten, traten zwei
unglaublich kuriose Gestalten in den Raum.
»Hallo, Sir!«
»Nanu, Arthur!«
Barge ließ vor Schreck das Skalpell fallen.
Dedlock rappelte sich hoch, bis er aufrecht im Bett saß, schnappte nach Luft
und schöpfte die unvermutete Hoffnung, dass er doch noch am Leben bleiben
könnte.
Barge starrte die beiden Eindringlinge an, zu
verblüfft, um etwas zu sagen. »Wer seid ihr?«, brachte er schließlich hervor.
»Ich bin Hawker, Sir. Er heißt Boon.«
Die Präfekten grinsten in schöner Einmütigkeit.
»Morgen, Mister Dedlock. Tut uns fürchterlich
leid, so reinzuplatzen.«
Als Trost und Beistand umarmte Dedlock ein
überzähliges Kissen. »Hat … hat der Albino Sie geschickt?«
»Klar, Sir. Busenfreund von Ihnen?«
»Pfundskerl, der alte Skimpers!«
»Schwer in Ordnung.«
Etwa zu diesem Zeitpunkt dämmerte Arthur Barge
endlich, was hier im Gange war, und er machte sich umgehend daran, sein Heil in
der Flucht zu suchen, als der größere der beiden Männer ihn an den Schultern
packte und mit festem Griff von der Tür weg zurück ins Zimmer schob. Barge
versuchte sich zur Wehr zu setzen – mit dem einzigen Erfolg, dass der
Fremde ihm beiläufig den rechten Arm brach. Als Barge vor Schmerz aufbrüllte,
begann Hawker ein Liedchen zu pfeifen.
»Ich danke Ihnen«, sagte Dedlock mit schwacher
Stimme; seine Worte gingen im Wehgeschrei des Attentäters fast unter.
Boon berührte den Schirm seiner Kappe. »Nichts zu
danken, Sir.« Im Handumdrehen schafften er und Hawker Barge aus dem Fenster und
verschwanden dann auf demselben Wege.
Nach einem Augenblick der Stille schwang sich
Dedlock aus dem Bett und blickte durch die zerbrochenen Reste seines Fensters.
Der Alte mit den buschigen Brauen wackelte tatterig
und mit zerzaustem Haar zur Tür herein. »Was ist geschehen, Sir? Sind Sie
verletzt?«
Dedlock hatte kaum einen Seitenblick für ihn
übrig.
»Meine Güte, was wurde denn hier
Weitere Kostenlose Bücher