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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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sagte der andere etwas
höflicher.
    »Hoffentlich haben wir Sie nicht geweckt. Wir
haben bloß mächtig Spaß an der Fußarbeit.«
    »Spielen ›am Ball bleiben‹.«
    In diesem Moment erkannte Mrs Grossmith das wahre
Wesen des »Fußballs«. Seltsam, dachte sie – so unbeteiligt, als wäre sie
losgelöst von dieser Entsetzlichkeit –, seltsam, dass ein menschlicher
Kopf viel kleiner aussieht, wenn er vom Körper getrennt ist, als wenn er auf
zwei kräftigen Schultern sitzt … Sie versuchte zu schreien, aber kein Ton
drang aus ihrer Kehle.
    »Schlechte Nachrichten, fürchte ich, Miss«, sagte
Boon wohlerzogen. »Ihr Bräutigam war ein Berufsmörder, bei seinen Auftraggebern
als ›der Mongoz‹ bekannt. Hawker und ich mussten ihm den Kopf zurechtrücken.«
    »Echte Halsabschneider, das sind wir«, wieherte
Hawker. »Haben Tränen gelacht!«
    »Was soll’s«, strahlte Boon. »Ich würde mir keine
Gedanken mehr machen. So geht’s eben manchmal im Leben.«
    Etwa um diese Zeit beging ich meinen
ersten Fehler.
    Mit Moon war eine Veränderung vor sich gegangen.
Der Zyniker in ihm hatte sich vor meinen Augen verflüchtigt, der eifrige
Verkünder von Vernunft und logischem Denken – all das, was ihn zu dem
gemacht hatte, der er war – hatte sich vor mir aufgelöst. Statt seiner
stand ein Bekehrter vor mir, ein neuer Saulus, der zum Paulus wurde und dessen
Damaskus die Cannon Street war.
    Solch eine Reaktion auf ein Zusammentreffen mit
dem Direktor war kein Einzelfall. Speight, Cribb und Moons eigene Schwester
waren alle erst erleuchtet worden, als sie den Träumer zu Gesicht bekamen.
    »Jetzt weiß ich, was Sie meinen«, flüsterte Moon.
»Nun sehe ich klar.«
    Ich fühlte mich ungefähr so, wie Jesus sich
gefühlt haben musste, als Thomas endlich aufhörte, in Seinen grässlichen Wunden
herumzustochern, und gab mir größte Mühe, nicht selbstgefällig zu wirken. »Also
begreifen Sie jetzt?«
    Moon wirkte seltsam unterwürfig mir gegenüber; von
seiner früheren Respektlosigkeit war keine Spur mehr vorhanden. Vielleicht
hätte ich zu diesem Zeitpunkt erkennen müssen, dass der Schein trog, aber in
diesem Moment kam mir das alles nur recht und billig vor.
    Verblüfft über die Kehrtwendung des Freundes
schien der Schlafwandler etwas niederschreiben zu wollen, irgendeinen Einwand,
kleinmütige Bedenken, aber er war schließlich so klug, davon Abstand zu nehmen,
und behielt seine Meinung für sich.
    »Ich fühle mich geschmeichelt«, sagte Moon –
und dann noch einmal, nachdrücklicher, als könnte ich seine Aufrichtigkeit
anzweifeln: »Wirklich, ich fühle mich geschmeichelt. Alles, was Sie für mich
getan haben … nur um mir zu vergönnen, dies hier mit eigenen Augen zu
sehen! Dieser ganze Aufwand, nur um mir die Wahrheit zu weisen! Ich stehe in
Ihrer Schuld.«
    Ich befeuchtete mir die Lippen. »Ich habe eine
Aufgabe für Sie.«
    Er grinste freudig. »Das hoffe ich doch!«
    Bebend vor Erregung erläuterte ich, was ich von
ihm erwartete. Ich hatte diesen Zauberkünstler dazu bestimmt, die Stimme der
Pantisokratie für die Außenwelt zu sein und als wichtigster Werber für die neue
Ordnung aufzutreten, als Sprecher des Sommerkönigreichs. Denn wie alle großen
Führer der Menschheit kannte ich meine Grenzen: Wer würde auf mich hören? Auf
einen gescheiterten Dieb, einen ehemaligen Zuchthäusler, einen Versager? Ich
kenne die Grausamkeit der Stimme des Volkes nur allzu gut – seine
verstockte, träge Beharrlichkeit, mit der es nicht der Botschaft lauscht,
sondern ihren Überbringer lächerlich macht.
    Bei Moon war das etwas anderes. Ihm würden sie
zuhören – einem gefeierten Detektiv, dem Magier des Theaters des
Unglaublichen und einstigen Fixstern am Himmel der besseren Gesellschaft.
    Dieses »Einstige« war es natürlich, auf das es
ankam. Ich hoffte, dass er immer noch über genug Einfluss verfügte, um gehört
zu werden, aber eigentlich faszinierte mich das Abgleiten des Mannes in die
Bedeutungslosigkeit; er war im Begriff, zu einem Menschen am Rande der
Gesellschaft zu werden, und ob er es nun wusste oder nicht: Damit war Edward
Moon auch dabei, einer von uns zu werden.
    »Lassen Sie mich gehen«, bettelte er. »Bitte!
Lassen Sie es mich allen verkünden! Die Menschen müssen vorbereitet werden! Die
Stadt muss bereit sein für die Pantisokratie!«
    Es war eine überzeugende Vorstellung, und ich
fürchte, dass sie ihm nicht schwerfiel. Wahrscheinlich halten Sie mich für
einen Narren, überhaupt

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