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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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schlängelten. Die gesamte
furchteinflößende moderne Technologie der Elektrizität und der Dampfkraft war
der Kugel zu Diensten – Ventile und Schieber, Kurbelwellen und Kolben,
Pumpen und Schwungräder, Zylinder und Dichtungsringe und Lagerblöcke.
    Aber es war nicht dieses kugelförmige Objekt
selbst, das solche Sprachlosigkeit hervorrief, sondern das, was sich darin
befand – sein einziger Bewohner.
    Ein alter Mann schwamm in der Kugel – in
Kleidern, die seit bald einem Jahrhundert außer Mode waren, das dünne weiße
Haar gelb von Nikotin und Verwesung, die Haut altersfleckig, an manchen Stellen
aufgeplatzt und gezeichnet von leichter Zersetzung. Nichtsdestoweniger war er
auf den ersten Blick als der führende Dichter seiner Ära zu erkennen.
    Moon begriff sofort, denke ich. Der Schlafwandler
brauchte ein wenig länger. Unwillkürlich ging mir die Zeile eines Gedichts
durch den Kopf: »
Könnt’ ich in mir erwecken die Symphonie, das Lied?
«
    Moon schnappte nach Luft, und ich bemerkte mit
Genugtuung, dass er endlich die ganze Dimension dessen erfasste, was ich
zustandegebracht hatte. »Wie ist das möglich?«, staunte er.
    »Galvanismus!«, rief ich triumphierend. »Die
Wunder von Elektrizität und Dampfkraft!«
    Der Schlafwandler kritzelte in wütender Hast auf
seine Tafel:
    GRABREUBER!
    Ich zuckte die Achseln; ich stand hoch
über solch kleinlichen moralischen Bedenken. »Ich befreite ihn. Zweifellos wird
er mir dafür dankbar sein.«
    »Er wirkt … beschädigt«, bemerkte Moon
unsicher.
    Der Schlafwandler starrte durch das Glas auf die
Hände des alten Mannes.
    NEHTE
    »Als ich ihn fand«, erklärte ich,
»waren Teile seines Körpers bereits stark verwest. Sie mussten ersetzt
werden … Natürlich verwendeten wir, wo wir konnten, seine Freunde dazu.
Seine linke Hand gehörte vormals Robert Southey. Etliche Zehen waren eine Spende
von Charles Lamb. Einige Organe, die ich wohl besser nicht im einzelnen
erwähne, stammten vom verstorbenen Mister Wordsworth.«
    MONSTER!
    »Nun ja, bestehend aus Stückwerk und
Flicken«, gab ich zu, »aber doch gewiss kein Monster. Ein Retter! Der Herr der
Pantisokratie!«
    Moon stand da wie versteinert. »Was ist diese
Flüssigkeit?«
    »Fruchtwasser. Oder zumindest etwas, das dieser
Substanz so weit wie möglich nahekommt.
›Denn Honigtau ist seine Speise und
Himmelsmilch sein Trank‹

    »Er lebt?«
    »Er träumt«, nickte ich. »Und kommt wieder zu
Kräften. Schon oft habe ich mich gefragt, was er in seinen Träumen sieht.
Welche Wunder er in seinem Schlaf zu Gesicht bekommt.« Ich zeigte auf einen
auffallend großen roten Hebel an einer Seite der Kugel. »Ich habe Mittel und
Wege, ihn zu wecken.«
    Alle drei blickten wir durch das Glas ins Gesicht
dieses bemerkenswerten Menschen, dieses Titans der Dichtung und des
philosophischen Gedankenguts – des letzten Mannes, so hieß es, der
alles
gelesen hatte. Wie friedlich er in der goldenen Flüssigkeit schwebte, wie
Achtung gebietend trotz der körperlichen Unzulänglichkeiten, die von seinem
Aufenthalt im Grabe verursacht worden waren.
    Moon starrte unverwandt durch das Glas; Tränen
bildeten sich in seinen Augenwinkeln. »Ich verstehe«, flüsterte er. »Vergeben
Sie mir. Sie hatten recht.«
    Obwohl ich weiß, dass ich dadurch in Ihrer Achtung
fallen muss, werde ich es Ihnen gestehen, ohne zu erröten: Als ich diese Worte
aus seinem Munde vernahm, klatschte ich in die Hände und tat einen Luftsprung
und jubelte und quiekte voll kindischer Freude.
    Das nächste Mal wachte Mrs Grossmith
zur Frühstückszeit auf, einige Stunden nachdem ihr Verlobter das Haus verlassen
hatte. Schlaftrunken rieb sie sich die Augen, kratzte sich ausgiebig am ganzen
Körper und wollte gerade aus dem Bett steigen, um die erste Tasse Tee des Tages
zu bereiten, als sie ein seltsames Geräusch hörte, das aus der Küche kam:
Kinderlachen und dazwischen Männerstimmen, rauh und fremd. Sie bewaffnete sich
mit dem erstbesten Gegenstand (da sie weder Schürhaken noch Vasen zur Hand
hatte, musste der Nachttopf herhalten) und schlich auf Zehenspitzen zur Tür.
    Zwei merkwürdige Gestalten zappelten in gebückter
Haltung vor dem Ofen herum – erwachsene Männer, gekleidet wie Schuljungen.
Sie traten ein weiches, rundes Ding auf dem Boden wie einen Fußball hin und
her; es gab dabei ein schmatzendes Geräusch von sich.
    Der stämmigere der beiden grinste, als er die
Haushälterin erblickte. »Nanu, auch da, Miss?«
    »Hallo, Mrs Grossmith«,

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