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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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darauf hereinzufallen, aber da ich zu jener Zeit dazu
neigte, mich von Redlichkeit überwältigen zu lassen, müssen Sie mir vergeben.
    Also ließ ich ihn gehen.
    Ich gab ihm vierzehn Tage, um die Botschaft zu
verkünden, zwei Wochen, um die Stadt bereit zu machen. Aber selbst in meinem
hehren Glauben an Moon hatte ich mir eine gewisse List bewahrt, denn in den
fernen Winkeln meines Verstands lauerten doch noch die Schatten des Zweifels.
»Sie werden allein gehen«, entschied ich, und als Moon sich anschickte zu
protestieren, schnitt ich ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Der
Schlafwandler muss erst noch bekehrt werden. Er wird hier bei uns bleiben, bis
er die Richtigkeit unseres Weges erkennt.«
    Moon versuchte noch einige Einwände, doch
schließlich gab er nach und erklärte sich einverstanden, seinen Freund unter
der Erde zurückzulassen. Möglicherweise verständigten sich die beiden durch
einen Geheimcode oder eine Geste – etwas, das dem Hünen die Furcht nehmen
sollte und ihn davon in Kenntnis setzte, dass Moon einen eigenen Plan
verfolgte. Falls es zu einem solchen Vorfall kam, dann entging er mir.
    Ich bilde mir gern ein, dass ein winziger Teil
seiner Person tatsächlich
glaubte
 – dass er ungeachtet seines
zynischen Schauspielerns irgendwo noch einen Rest von Anständigkeit besaß, der
uns Achtung und Anerkennung zollte. Naiv, ich weiß. Naiv und zu
vertrauensselig. Aber so bin ich eben. Mit der eiskalten Falschheit eines
Mannes wie Moon konnte ich es nie unbeschwert aufnehmen.
    Ich verließ den Direktor, der immer noch schlief,
und befahl, den Detektiv an die Oberfläche zu begleiten (Donald McDonald und
Elsie Bayliss, eine einarmige ehemalige Putzfrau, machten die Honneurs). Wir
schüttelten uns zum Abschied herzlich die Hand.
    »Vierzehn Tage?«, fragte er enthusiastisch,
offenkundig erfüllt von der neu gewonnenen Überzeugung.
    »Zwei Wochen. Sie haben mein Wort.«
    Er dankte mir und ging. Der Schlafwandler sah ihm
nach, wobei seine reglosen Augen einen Funken Angst verrieten. »Keine Sorge«,
sagte ich und berührte ihn leicht an der Schulter. »Bald werden Sie die
Wahrheit erkennen.«
    Wir gingen zurück zum Präsidenten des
Verwaltungsrats. Ich hoffte, dass er trotz seines schlafenden Zustands meine
Anwesenheit wahrnahm, dass er begriff, wer ich war, und mir dafür dankte.
Manchmal wagte ich sogar zu hoffen, dass er mich liebte. Ich sprach leise in
das Glas der Luke: »Vierzehn Tage. Dann wirst du durch das Sommerkönigreich
wandeln.«
    Ein kurzes Klopfen an der Tür. »Reverend Doktor
Tan!«
    Ich drehte mich um, und mein Blick fiel auf ein
Traumbild in Chiffon und Spitzen. »Charlotte!«
    Sie brachte ein dünnes Lächeln auf die Lippen.
»Bitte nennen Sie mich Love.«
    »Selbstverständlich«, sagte ich leicht verlegen.
    »Ich bin besorgt.« Wie immer sprach sie in diesem
berückenden Singsang – eine jener Stimmen, die, sinnierte ich, einst
Seefahrer in den sicheren Tod geführt, Generationen von Matrosen in die felsige
Brandung gelockt haben mussten. »Mein Bruder. Haben Sie ihn gehen lassen?«
    »Er ist jetzt einer von uns. Love Eintausend ist
nach oben zurückgekehrt, um die frohe Botschaft zu verkünden.«
    Charlotte wirkte ungeduldig. »Er hat Ihnen etwas
vorgemacht! Er hat Sie belogen!«
    »Wie?«
    »Ich kenne meinen Bruder. Er ist nicht
zurückgegangen, um die Nachricht zu verbreiten! Er wird die Polizei hier
herunterbringen, die Armee! Sie werden uns vernichten! Sie, Reverend, haben ihn
gedemütigt, und er sinnt auf Rache.«
    »Ich bin sicher, er meint es ehrlich«, beharrte
ich, obwohl ich spürte, wie sich die Risse in meiner Überzeugung weiteten. »Er
war völlig verändert!«
    »Unsinn«, stellte Charlotte barsch fest. »Er wird
Sie verraten. Sie haben nicht den Täufer hinaufgeschickt, sondern einen neuen
Judas!« Eine interessante Begleiterscheinung, bemerkte ich bei mir, dass jene
unserer Anhänger, die dem Direktor Auge in Auge gegenübergestanden hatten,
aufgrund dieses Erlebnisses sprachgewaltiger wurden.
    »Sind Sie sicher?«
    »Absolut.«
    Einen Moment lang wusste ich nicht weiter. »Was
sollen wir also tun?«
    »Die Sache vorverlegen. Vergessen Sie die vierzehn
Tage. Machen Sie es sofort.«
    »Wir sind noch nicht so weit!«
    »Sie planen das seit Jahren. Natürlich sind wir so
weit! Und ich habe auch schon einen Trupp ausgeschickt, der die Züge anhalten
soll.«
    »Ohne meine Erlaubnis?«
    »Verzeihen Sie, aber ich hielt es für das Beste.
Die Zeit ist knapp.

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