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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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Die Untergrundbahn wird uns heute nicht mehr stören.« Sie
warf einen Seitenblick auf meinen Begleiter. »Und noch etwas. Der
Schlafwandler. Mein Bruder wird zurückkommen, um ihn zu holen. Er könnte uns
dann nützlich sein … als Druckmittel.«
    Zwanzig Mann waren nötig, um den
Schlafwandler zu bändigen, sobald er erkannte, was wir vorhatten; doch
schließlich gelang es uns, ihn in die große Halle zu bringen, dort zu Boden zu
zwingen und zu fesseln. Doch natürlich war er praktisch unverwundbar, und wir
wussten, dass Seile und Ketten allein ihn nicht festhalten konnten. Schließlich
war es Mister Speight, der die Lösung parat hatte.
    Wir durchstachen den Schlafwandler vierundzwanzig
Mal, indem wir zwei Dutzend Schwerter durch seinen Körper stießen und sie tief
im Boden verankerten. Stoisch und ohne einen Laut von sich zu geben, ertrug er
diese vielen tiefen Wunden, und ich fragte mich wieder einmal, was genau er
eigentlich war – welcher Natur ein Wesen sein musste, um diese Tortur zu
überstehen, ohne einen Tropfen Blut zu verlieren. Während ich zusah, fühlte ich
mich an Gulliver erinnert, der von den Liliputanern am Strand an Pfähle
gebunden wird, an Galileos Porträt des Menschen, entstellt und gefesselt –
verkommen zum Schaustück eines Schmetterlingssammlers.
    Ganz
Love
versammelte sich um den Hünen,
neugierig und einigermaßen ängstlich. Ich rief sie zur Ordnung – alle
neunhundertneunundneunzig, die Infanterie des Sommerkönigreichs, meine Truppen
der Pantisokratie. Ich wusste, dies könnten die wichtigsten Worte sein, die ich
jemals sprechen würde, Höhepunkt der Träume eines Jahrzehnts.
    Ich begann mit einer Entschuldigung. »Ich
gestehe«, rief ich, »dass ich in die Irre geführt wurde – betrogen von
einem Mann, von dem ich annahm, er wäre einer von uns geworden. Und aufgrund
meiner Kurzsichtigkeit ist er nun draußen, um unsere Feinde zu warnen. Dank sei
dem Direktor, dass Love Neunhundertneunundneunzig mir die Augen öffnete, bevor
es zu spät war.« Ein wohltuender Applaus.
    »Doch selbst dieser Verrat hat etwas Gutes an
sich. Unsere Pläne haben sich geändert. Die Pantisokratie fängt mit dem
heutigen Tage an. Das Sommerkönigreich tut sich uns früher auf, als wir zu
hoffen wagten.« Erneutes Jauchzen und Händeklatschen. »Geht hinaus«, fuhr ich
mit anschwellender Stimme fort, »bekehrt die Stadt, rottet die Symbole von Schmutz
und Verderbtheit aus! Verursacht ein Chaos – jedoch ein reines, heiliges
Chaos! Benutzt das Schwert – jedoch sparsam, nicht als Waffe, sondern als
Messer des Chirurgen im Kampf gegen Krankheit und Übel, denn wir wandeln
inmitten eines neuen Eden! Ich verlasse mich auf euch!« Ich blickte hinab auf
beinahe tausend einsame Gesichter – auf die Besitzlosen, den Abfall
unserer Gesellschaft und die ehemaligen Feinde, die bekehrt worden waren –
und verspürte eine Aufwallung von Kraft und Zuneigung.
    »Ich liebe euch alle«, sagte ich und fügte
übermütig hinzu: »Gott sei mit euch!«
    Unter wildem Gebrüll stürmten sie aus der Halle,
durch die Tunnel hinaus auf die Straßen: Abwehrkräfte, bereit zum Kampf gegen
das Krebsgeschwür der Stadt.
    Ich ging allein zurück zum Präsidenten
und betrachtete ihn schweigend durch das Glas seines Mutterschoßes, bis meine
Erregung unerträglich wurde.
    Da tat ich es schließlich: Ich zog an dem roten
Hebel.
    Wie ein Feuerwerk spritzte ein Funkenschauer von
der Apparatur und stob durch den Raum. Die Kugel füllte sich mit Bläschen und
Blasen, und ein starkes Licht erstrahlte aus ihrem Inneren, so blendend hell,
dass nicht einzelne Sterne, sondern ganze Galaxien vor meinen Augen tanzten.
    Mit einem Ruck hob sich der Kopf des alten Mannes,
sein Körper erbebte, und die Arme schlingerten ziellos hin und her, ehe seine
Finger die Innenwand der Kugel berührten und daran kratzten.
    Ich konnte kaum glauben, dass ich bei diesem
Anblick zugegen sein durfte; selbst ein Augenzeuge der ersten Geburt der
Menschheitsgeschichte hätte sich nicht anders fühlen können – bei Evas
Keuchen und Krümmen in höchster Verwirrung, während Kain aus ihrem Schoß kroch.
    Das Gesicht des alten Mannes war keine Handbreit
von meinem eigenen entfernt, als er die Augen aufschlug; er schien zu lächeln,
als er mich sah.
    Der Träumer war erwacht.
    Überwältigt von Freude schraubte ich die Luken der
Kugel auf. Wogen gelber Flüssigkeit schossen daraus hervor und ergossen sich
über den Boden. Triumphierend schrie ich auf,

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