Das Albtraumreich des Edward Moon
die London Bridge zurückwanderten, begann
Cribb zu sprechen.
»Die Wikinger waren hier«, sagte er –
irgendwie ins Blaue hinein. »Vor neunhundert Jahren haben sie diese Brücke
zerstört.« Er gestikulierte mit weit ausholenden Armbewegungen wie ein eifriger
Jungprofessor, der bestrebt ist, bei seiner ersten Vorlesung Eindruck zu
machen. Der Klang seiner Stimme wechselte vom Plauderton zum
Schulmeisterlichen. »Die Nordmänner vertäuten ihre Schiffe an den Pfeilern der
Brücke, machten sie mit Seilen und Ketten an den Verstrebungen und Stützen
fest – und dann ruderten sie. Bei ihrer Fahrt flussabwärts rissen sie die
gesamte Konstruktion der Brücke mit und brachten das herrliche Bauwerk dazu, in
die Themse zu stürzen. ›London Bridge is falling down‹ – das Lied,
verstehen Sie? Aber sie wurde wieder aufgebaut, immer wieder, viele Male. Die
Stadt hat Bestand.«
»Warum erzählen Sie mir das alles?«, fragte Moon,
verwirrt von dieser unerwarteten Lektion in Geschichte.
Cribb ignorierte die Frage; offenbar war ihre
Beantwortung unter seiner Würde. Stattdessen sah er Moon an und sagte: »Sie
sind kein Mann, der an Fehlschläge gewöhnt wäre, nicht wahr?«
»Ganz recht.«
»Für Sie ist es vielmehr selbstverständlich,
Verbrechen nach ein, zwei Stunden im Archiv aufklären zu können, Lösungen auf
knifflige Fragen in Ihrem Lehnstuhl zu finden oder in den Armen irgendeines von
Mrs Puggsleys verunstalteten Mädchen auf wesentliche Erkenntnisse zu stoßen.«
»Wie kommt es, dass Sie das alles wissen?« Moon
klang beinahe ängstlich.
Cribb hob die Schultern. »Sie haben es mir selbst
gesagt. Oder, besser, Sie
werden
es mir sagen. Aber es gibt noch so
viel, was Sie erfahren müssen. Den Honeyman-Fall haben Sie nie begriffen. Sie
wissen auch nicht, wieso die Fliege Ihren Namen gekannt hat. Sie haben so viele
Fragen und so erschütternd wenige Antworten!«
»Wenn Sie etwas wissen, dann würde ich vorschlagen,
Sie sagen es mir sofort. Denn sollte es sich als nötig erweisen, wäre ich in
der Lage, das ganze Gewicht des Gesetzes in die Waagschale zu werfen, um mich
dabei zu unterstützen.«
»Ich bitte Sie.« Cribbs Tonfall war der eines
enttäuschten und trotzdem nachsichtigen Lehrmeisters. »Es gibt keinen Grund,
mit Drohungen um sich zu werfen. Meine Hände sind gebunden. Es gibt Regeln.«
»Was wollen Sie also?«
»Jedes Verbrechen hat seinen Hintergrund, Mister
Moon. Jeder Mord ist das Ergebnis einer verschlungenen Aufeinanderfolge von
Geschehnissen. Gelegentlich kann diese Aufeinanderfolge Stunden, Tage oder
Wochen dauern. Doch häufiger handelt es sich um eine Sache von Monaten oder
Jahren. Und in wenigen, in ganz seltenen, bemerkenswerten Fällen kann ein
einzelner Todesfall sogar das Werk von Jahrhunderten verkörpern. Was Ihnen
fehlt, ist die richtige Perspektive. Ich habe einen kleinen Spaziergang vor.
Ich möchte Ihnen die Stadt zeigen.«
»Ich kenne sie.«
»Das bezweifle ich. London liegt so offen vor uns
wie ein großes Buch. Folgen Sie mir, und ich lehre Sie, es zu lesen.«
Nachdem sie die Brücke hinter sich gelassen
hatten, durchschritten sie flott die Upper Thames Street, danach die Queen
Street und stießen von dort zur Cannon Street, wo sie vor einer einsamen,
vernachlässigt wirkenden Kirche stehenblieben.
»Saint Swithin«, erklärte Cribb im bestimmten
Tonfall eines gewerbsmäßigen Fremdenführers. Er ging auf das Tor zu, und Moon
folgte ihm.
Es war die Zeit zwischen den Gottesdiensten, und
die Kirche war fast leer. Die Gerüche von Moder und Weihrauch hingen schwer in
der Luft, und eine Handvoll Gläubiger saß verstreut in den Bänken – einige
tief in Gebet oder Meditation versunken, die meisten von ihnen jedoch schlafend
oder, im Falle einer ganzen Reihe alter Knollennasen, stumpf und halb betäubt
vom Schnaps. Der Pfarrer war nirgends zu erblicken; eine versprengte Herde, die
ihren Hirten verloren hatte.
Moon sah zu, wie sein Begleiter neben den Altar
trat, auf die Knie sank und unverwandt auf etwas zu starren schien.
»Edward!« Ein halblautes, heiseres Flüstern. »Hier
herüben!«
Die allzu vertraute Anrede missfiel Moon zutiefst.
»Wozu?«
Cribb zeigte mit dem Finger auf eine Stelle an der
Wand. »Dort! Sehen Sie es?«
Hoch über dem Altar, im dunklen Mauerwerk unter
zwei stockfleckigen Cherubim, war etwas zu erkennen, das aussah wie eine große
Steinmetzarbeit, bedeckt mit feuchten, porösen Stellen und von Alter und
Düsternis gebleicht – ein
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