Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
Vom Netzwerk:
der unbeirrbaren Autorität eines Lexikons, das
irgendwie zu Stimme gekommen war, ratterte Cribb die Auskunft hervor.
    »Es handelt sich um Gog und Magog, die letzten
Riesen Englands, hierhergebracht von Brutus, um die Stadttore zu bewachen. Die
Legende besagt, dass sie nach einem blutigen Streit von König Lud aus London
verbannt wurden.«
    »Wie kommt es, dass Sie so viel Wissen über die
Stadt angesammelt haben?«
    »Weil ich nicht von hier fort kann. Die Grenzen
dieser Stadt stecken auch meine Grenzen ab. Aber das ist nicht der Grund,
weshalb ich Sie hierhergeführt habe.« Cribb deutete mit dem Kinn auf die Bank
von England. »Sehen Sie doch.«
    »Dort habe ich vor ein paar Jahren einen Bankraub
unterbunden«, sagte Moon im Plauderton. »Der Schlafwandler und ich, wir lachen
von Zeit zu Zeit immer noch darüber. In der Hoffnung, auf die Goldreserven zu
stoßen, versuchte ein Galgenvogel, sich in die unterirdischen Stahlkammern
durchzugraben und endete bis zum Bauch in den Abwässern. Höchst amüsante Sache
damals.«
    Die Abschweifung schien Cribb zu irritieren. »Ich
möchte, dass Sie richtig hinsehen! Dass Sie sie wirklich anschauen! Und
versuchen, ihr wahres Wesen zu sehen, den knöchernen Schädel unter der Haut.
Begreifen, was sie verkörpert!«
    Eine Sekunde des Schweigens.
    »Das Giftherz Londons!«, sprudelte Cribb,
plötzlich in Rage gebracht, hitzig hervor. »Ein widerliches Krebsgeschwür im
Herzen der Stadt! Wir werden unterdrückt, Mister Moon, und überall rundum
befinden sich Zeichen und Symbole unserer Unterwerfung!«
    »Wenn Sie meinen.«
    »Nur damit es zu keinem Missverständnis kommt: die
Stadt selbst ist der Lebensnerv dieser Geschäfte, die treibende Kraft hinter
diesen Verbrechen! Und nun habe ich noch etwas, das ich Ihnen zeigen will.«
    Er setzte sich wiederum abrupt in Bewegung, und
Moon folgte ihm. Sie gingen denselben Weg zurück, den sie gekommen waren: durch
die King William Street und weiter zum »Monument«, einem Turm in Form einer
riesigen dorischen Säule aus dem siebzehnten Jahrhundert, errichtet im Gedenken
an das Große Feuer.
    (Ich bitte um Vergebung, falls das
unmittelbar Vorangegangene herablassend oder belehrend klingen sollte: es
richtet sich allein an Ignoranten oder Touristen, denn ich möchte doch hoffen,
dass meine Leser ausreichend gebildet sind, um auch ohne Erklärung die
Bedeutung von Christopher Wrens Meisterwerk zu kennen. Dennoch bleibt man
bedauerlicherweise mit dem Umstand konfrontiert, dass man stets auch die
Existenz von Banausen in Betracht ziehen muss. Ich habe keinen Einfluss auf die
Zusammensetzung meines Leserkreises, und es ist eine triste und tragische
Tatsache, dass es mir noch nie gelungen ist, die Intelligenz der Öffentlichkeit
zu unterschätzen.)
    Direkt neben dem Monument auf der King
William Street waren irgendwelche Bauarbeiten im Gange.
    »Züge«, stellte Cribb kurz fest, als sie daran
vorbeikamen. »Die Untergrundbahn wird renoviert.«
    An dem kleinen Stand zahlten die beiden Männer für
den Besuch des Monuments und betraten das Bauwerk. Sie kämpften sich die
Wendeltreppe bis nach oben und traten schließlich schwitzend und kurzatmig
hinaus in die kalte Herbstluft. Ein dünnes Metallgeländer schien die einzige
Barriere zwischen ihnen und der schwindelerregenden Tiefe.
    Die letzten Besucher des Tages gingen gerade (es
war bereits auf der Treppe zu einigen unangenehmen Momenten gekommen, als sich
die verschiedenen Gruppen bemühten, aneinander vorbeizulavieren und
vorbeizudrängen), und ein paar Minuten lang hatten Cribb und Moon die Aussicht
ganz für sich allein.
    Sie blickten hinaus über London. Es hatte wieder
zu regnen begonnen – ein dünnes, farbloses Nieseln, das wie ein Schleier
wirkte, der sich trübe und trostlos über das Panorama legte.
    »Ist sie nicht hässlich, diese Stadt?«, fragte
Cribb. »Jetzt sehen Sie sie, wie sie wirklich ist, ohne ihre Schminke, ohne ihr
Wangenrouge. Nach der großen Feuersbrunst wollte Wren eine neue Stadt
erbauen – das London seiner Träume, ein neues Jerusalem, eine strahlende
Metropole, entworfen auf rein mathematischen Linien.«
    »Und was geschah?«
    »Die Stadt durchkreuzte seine Pläne. Sie weigerte
sich einfach, die von Wren angestrebte Gestalt anzunehmen, und wucherte
halsstarrig und sündhaft weiter. Das sagte sie ihm sogar: Als er durch die
Reste der alten Saint-Pauls-Kirche wanderte, stolperte er und fiel über einen
größeren Schuttbrocken – einen Grabstein. Als er wieder

Weitere Kostenlose Bücher