Das Albtraumreich des Edward Moon
»Der Mann, den Sie suchen, ist …« Und in der leicht
herablassenden Art eines örtlichen Würdenträgers, der bei der Pfarrtombola das
Los für den Hauptpreis zieht, wiederholte sie den dritten in der Reihe der
genannten Namen. »Er hat sich schon vor Monaten mit der anderen Seite
arrangiert.«
»Ich stehe in Ihrer Schuld, Señor Corcoran.«
»Behandeln Sie den Mann nachsichtig. Er ist jung
und unerfahren, man sollte ihn nicht allzu sehr verdammen.« Sie seufzte. »Ich
bin müde. Aber es ist jemand hier, der sich noch nicht gemeldet hat. Mister
Moon? Gibt es jemanden, mit dem Sie ein Gespräch wünschen? Ein Mensch, dem Sie
zugetan waren? Ein Verwandter oder eine Liebste, die uns bereits verlassen
haben?«
Der Schlafwandler erschrak sichtbar, als Moon
antwortete: »Ja.«
»Der Name?«
»Seinen richtigen Namen kenne ich nicht, aber im
Leben nannte er sich ›Fliegenmensch‹.«
Eine angespannte Pause, und dann: »Es ist jemand
hier, der sich als solcher zu erkennen gibt. Aber ich muss Sie warnen, Sir, der
Fliegenmensch hat seinen Seelenfrieden noch nicht gefunden. Er ist ein
zorniger, unruhiger Geist.«
»Ich möchte ihn trotzdem sprechen.«
Ein Schatten überflog das Gesicht Madame
Innocentis. »Wie Sie wünschen.« Sie tat einen schrillen Schrei, ihr Kopf ruckte
nach hinten, und sie wand sich auf ihrem Stuhl, als hielte eine unsichtbare
Kraft sie gepackt. Ganz plötzlich verzerrte sich ihr Gesicht und
verschrumpelte, und sie verwandelte sich vor aller Augen in ein geiferndes
Scheusal – die Bestie von Tooting Bec. Zum Schrecken ihrer versammelten
Anhänger war keine Spur ihrer früheren Beredtheit mehr vorhanden, sondern,
wahrhaftig: Madame Innocenti
knurrte
!
»Hallo«, sagte Moon mit einer Nonchalance, die er
nicht wirklich empfand, »erinnerst du dich an mich?«
»Moon«, murmelte das Medium mit rasselnder,
kehliger Stimme. »Moon.«
»Woher kanntest du meinen Namen?«
»Teil des Ganzen.«
»Des Ganzen? Welches Ganzen?«
»War ganz leicht. Ein Spaß. Wie Käfer zertreten.
Ein Stoß, ein Schubs, und sie flogen durch die Luft. Leicht. Ganz leicht.«
Nur sehr wenig konnte Moon noch überraschen, aber
die Vorstellung, die Madame Innocenti hier gab, verschlug ihm die Sprache.
Aschfahl im Gesicht und mit abgesacktem Kinn fragte er: »Wer bist du?«
»Prophet!«, gurgelte das Medium. »Täufer!
Wegbereiter!«
Moon gewann seine Haltung wieder. »Erzähl mir mehr
darüber.«
Madame Innocenti grinste. In dem Halbdunkel sah es
so aus, als befänden sich viel zu viele Zähne in ihrem Mund. »Hab eine
Warnung.«
»Eine Warnung? Für mich?«
»Zehn Tage, bis die Falle zuschnappt. Bis der
Albtraum beginnt. Bis London brennt, die Stadt fällt.«
Moon beugte sich vor. »Erkläre mir das!«
Eine lange Pause. Dann: »Scheiße.« Madame
Innocenti schien sich das Wort auf der Zunge zergehen zu lassen, rollte es im
Mund herum wie den ersten Schluck eines unvorstellbar teuren Weins.
Moon traute seinen Ohren nicht. »Wie bitte?«
»Scheiße.« Madame Innocenti klang durchaus
besonnen und überlegt. »Scheiße. Pisse. Möse.« Das letzte Wort spuckte sie mit
ganz besonderem Genuss aus.
Die Salisburys waren entsetzt, Dolly Creed nur
verwirrt, während Mister Lister sich nach Kräften bemühte, ein nervöses Kichern
zu unterdrücken.
»Mister Moon!« Das war Madame Innocentis Ehemann.
»Das geht zu weit!«
»Scheiße«, sagte seine Frau im Plauderton. »Möse
Möse Möse.«
»Lösen Sie den Kreis! Hände loslassen!«
Sofort rissen sich alle von ihren Nachbarn los,
und Madame Innocenti richtete sich abrupt auf, während ihr ein dicker
Speichelklumpen ungehindert vom Mund fiel. Die Salisburys schwankten auf die
Füße, und Mrs Erskine stach mit dem Zeigefinger zornig in Moons Richtung. »Sie
sind ein schändlicher Übeltäter!«, rief sie. »Man sollte Sie einsperren!«
Madame Innocenti öffnete die Augen und strahlte.
»Ich bin wieder zurück«, sagte sie mit ihrer normalen Stimme und wischte den
Speichel weg, der ihr immer noch in zähen Fäden von den Lippen hing.
Alle starrten sie verblüfft an.
»Hoffentlich habe ich nichts getan, was mir jetzt
peinlich sein müsste«, lächelte sie freundlich in die Runde.
Am nächsten Morgen waren sie kaum
aufgestanden, als der Albino auftauchte.
»Irgendetwas?«
Moon durchbohrte ihn mit seinem Blick. »Ich bin
nicht Ihr Lakai.«
»Sagen Sie mir einfach nur, was geschehen ist.«
Nicht mehr ganz so hochfahrend erstattete Moon
Bericht, etwas abgewandelt und
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