Das Albtraumreich des Edward Moon
gelüftet
habe. Ich habe mit den Verstorbenen gesprochen, und sie haben mich als ihr
geistiges Werkzeug gewählt, als ihre Stimme in der Welt der Lebenden.« Madame
Innocenti lachte leise auf. »Genug davon, ich habe nicht vor, Sie zu
langweilen. Ich bin sicher, Sie haben all das schon irgendwo einmal gehört.«
»Fassen Sie einander an den Händen«, wies ihr
Gatte die Anwesenden an, und sie gehorchten alle, schnappten nach den Fingern
ihrer Nachbarn und bildeten rund um den Tisch eine Kette aus verschwitzten
Handflächen und zuckenden Daumen. Moon und der Schlafwandler tauschten Blicke
aus und achteten sorgfältig darauf, die jeweilige Hand des Mediums fest zu
umklammern.
»Sie haben jedes Recht, vorsichtig zu sein«, sagte
Madame Innocenti. »Wir verstehen Ihr Widerstreben, Ihre Weigerung zu glauben.
Die Geister werden Ihnen vergeben.«
»Wie beruhigend«, bemerkte Moon.
»Ich werde Sie jetzt verlassen«, erklärte sie
würdevoll. »Ich werde mich aus der Ebene der Sterblichen lösen und aufsteigen
ins sonnenerhellte Reich der Toten. Wenn ich wieder zu Ihnen spreche, werde ich
nicht allein sein. Mein Körper wird zur Hülle eines anderen, meines geistigen
Führers. Eines Spaniers aus der Zeit Elisabeths. Er ist uns allen als Señor
Corcoran bekannt.«
Ernstes, zustimmendes Gemurmel rund um den Tisch.
»Haben Sie keine Angst.« Und nach diesen Worten
seufzte das Medium tief und sank auf dem Stuhl in sich zusammen.
Mrs Erskine, die alte Dame, schrie erschrocken
auf.
»Unterbrechen Sie den Kreis nicht!«, zischte
Madame Innocentis Gatte.
Eine Minute Stille, und dann nahm die Hellseherin
wieder eine kerzengerade Haltung ein. Ihre Augen blieben geschlossen, und
während sie in jeder Hinsicht dieselbe Frau wie zuvor schien, hatte sich
irgendetwas an ihr fast unmerklich gewandelt – eine feine Veränderung ihres
Gesichtsschnittes, eine kleine Verschiebung ihrer Züge. Als sie ihr Schweigen
brach, war ihre Stimme tief und voll und ihre Aussprache mit einem fremden
Akzent gefärbt, der ärgerlicherweise nicht einzuordnen war. »Ich fühle, dass
Sie viele Fragen haben. Wer von Ihnen möchte als erstes das Wort an die Reihen
der Dahingegangenen richten?«
Mister Salisbury meldete sich begierig. »Mein
Sohn! Ist er bei euch?«
Ein gequältes Lächeln des Mediums. »Ich benötige
einen Namen«, sagte sie, nach wie vor in Corcorans pseudo-spanischem Akzent.
»Albert«, murmelte der Mann. »Albert Salisbury.«
»Albert?« Eine lange Pause. Madame Innocenti
verzog das Gesicht, als müsste sie mit einem äußerst schwierigen Problem
fertigwerden. »Albert?« Sie stieß hörbar die Luft aus. »Ja, da ist eine Person
namens Albert.« Einen schrecklichen Augenblick lang wurde der Körper des
Mediums in heftige Zuckungen versetzt, krümmte und wand sich, als stünde er
unter elektrischem Strom. Während all dies vor sich ging, waren Moon und der
Schlafwandler sorgfältig darauf bedacht, Mrs Innocentis Hände festzuhalten. Als
sie wieder sprach, geschah es im hohen Singsang eines Kindes. »Papa?«,
flüsterte sie. »Papa, bist du das?«
Mister und Mrs Salisbury schluchzten gemeinsam
auf. Letztere begnügte sich damit, ihre Tränen diskret zu vergießen, doch ihr
Gatte schrie mit sich überschlagender Stimme halb lachend, halb weinend: »Ja,
mein Junge! Ja, ich bin es!« Es lag etwas Mitleiderregendes in diesem Anblick:
ein rundschädeliger Glatzkopf mit dem Aussehen eines pensionierten
Oberlehrers – die Sorte Mann, der mit Freuden einer ganzen Schulklasse
noch vor dem Frühstück den Hintern versohlt hätte – und führte sich
heulend und zähneknirschend auf wie ein hysterisches Weib!
Madame Innocenti stieß ein kindliches Kichern
hervor. »Papa!«, piepste sie. »Ich bin glücklich hier! Die Geister sind so
freundlich zu mir. So lieb und freundlich! Es ist warm hier, Papa, weich und
warm, und es gibt so viele Pelztierchen und kleine flaumige Dinger!«
Die Augen der Salisburys glänzten nass. Moon unterdrückte
ein Gähnen.
»Großmama ist bei mir!«, fuhr das Medium fort.
»Großpapa auch! Jeden Tag ist Weihnachten, und alles ist so schön! Ich schwebe,
Papa, ich schwimme in Milch und Honig! Ich hab dich lieb! Ich hab dich sehr
lieb, aber jetzt muss ich wieder gehen. Bitte, bitte, komm bald zu mir!«
Die Stimme verstummte. Madame Innocenti sackte
nach vorn, und als sie wieder sprach, war sie in ihrer Rolle als Corcoran. »Ich
bitte um Vergebung«, sagte sie schroff. »Wir haben die Verbindung verloren.
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