Das Albtraumreich des Edward Moon
Das
Kind hat einen Namen, der im Traum zielstrebig auf ihn zuschwebt. Ned. Aber der
Zuname des Jungen entzieht sich seiner Kenntnis, und der Traum wechselt erneut.
Er ist an einem Strand und bohrt die nackten Zehen
in den Sand, den er rund um seine Füße hochkriechen und in jede Hautfalte
eindringen spürt. Die Bö fasst spielerisch nach ihm, fängt sich in seiner Jacke
wie in einem Umhang, und dann glückt es ihr fast, ihm den Hut vom Kopf zu reißen.
Er sieht eine ältliche Frau am Rande eines Holzstegs stehen, den man in die
Brandung geschoben hat. Arthritisch zuckelt sie die kurze Treppe hinab ins
Seichte und quiekt nach Altweiberart, als sie mit dem kalten Wasser in
Berührung kommt. Der alte Mann lacht dazu, und mit einem Mal steht Ned neben
ihm, die heiße kleine Kinderhand in der seinen. Ned lacht auch, und keiner von
beiden weiß, warum. Der Junge packt seine Hand ganz fest und sie gehen weiter.
Die Jahre laufen zurück, aber der Schauplatz ist
derselbe. Der Träumer steht wieder am Strand, aber er ist jetzt nicht mehr alt.
Der Junge ist verschwunden (er muss zweifellos erst geboren werden),
stattdessen ist ein anderer Mann an seiner Seite, jemand, den der Träumer als
wichtig erachtet, als bedeutsam für viele Leben, nicht nur für sein eigenes.
Sie planschen gemeinsam im Wasser. Ihre Schuhe liegen im trockenen Sand, und
sie haben die Hosenbeine aufgerollt bis über die Knie; ihre ängstliche
Begleitung lässt sie nicht aus den Augen. Das Wasser leckt gierig an ihren
Waden, und der Träumer grinst seinem Gefährten zu. Plötzlich kommt es ihm zu
Bewusstsein: der Premierminister! Könnte das sein? Zu unwahrscheinlich,
entscheidet er und bewegt sich unruhig im Schlaf. Könnte es wirklich sein, dass
er einst in Ramsgate mit dem Premierminister im Wasser geplanscht hat?
Ramsgate?
Wann hat er sich nur daran
erinnert?
Vermutlich gar nicht. Träume lügen.
Wieder das Zimmer in Highgate. Gillman und der
Junge. Wie üblich plappert der alte Mann pausenlos vor sich hin, und sein
unaufhörlicher Redestrom windet sich umständlich durch eine weitere Anekdote.
»Alle Dichter kommen in die Hölle«, sagt er, und das Kind lauscht gebannt;
Gillman hingegen wirkt gelangweilt – er hat es ja alles schon gehört, und
das mehr als einmal. Selbst in seinem Traum ist sich der Alte seines Rufes der
Geschwätzigkeit bewusst.
Dann erinnert er sich. »Alle Dichter kommen in die
Hölle.« Irgendetwas sagte das irgendwann zu ihm. Etwas nicht vollkommen
Menschliches, etwas nicht ganz Lebendiges – etwas, dessen Stimme
heimtückisch raschelte wie der Wind in trockenen Blättern.
Und dann ist er wieder jung, immer noch Student,
in seiner Unterkunft allein mit diesem Ding, das ihm – um einen bestimmten
Preis – versprochen hat, ihn in gewisse Geheimnisse einzuweihen. »Alle
Dichter kommen in die Hölle«, sagt es mit Augen wie glühende Kohlen, und der
alte Mann weiß, dass dies alles ist, was es je sagen wird – immer nur
denselben verwirrenden Satz, bis zum Überdruss und in alle Ewigkeit.
Vierzig Jahre später erzählt er die Geschichte,
und Gillman lacht, als würde er nur wieder irgendein Garn spinnen, irgendein
unverschämt ausgeschmücktes Geschichtchen zum Besten geben; aber der Junge,
dieser seltsame, ernsthafte, ganz besondere kleine Junge lacht nicht, und der
Alte denkt – der Alte weiß –, dass dies, genau dies die eine, einzige
Geschichte ist.
Und während er schläft, dröhnt und lärmt über ihm
die Stadt weiter.
Ein leichter Geruch umgab Mister Cribb,
den Moon nie zuvor bemerkt hatte und der keineswegs unangenehm war – kein
Geruch nach menschlichen Ausdünstungen oder der muffige, dumpfe Gestank eines
ungewaschenen Körpers, sondern etwas Ungewöhnlicheres, Erquicklicheres, das an
Reife, Moder und Dunst gemahnte. Cribb roch wie Blätter im Oktober. Er roch
nach Herbst.
Sie waren schon ein ganzes Stück vom Hotel
entfernt, als sie bemerkten, dass ihnen jemand folgte.
»Ein Freund von Ihnen?«, fragte der hässliche Mann
und deutete unauffällig mit dem Kopf auf einen Mann im grauen Anzug, der
gleichmütig einen halben Häuserblock hinter ihnen hertrottete.
»Mein Kammerdiener«, erklärte Moon. »Mein
Bewacher. Skimpole lässt mich ohne ihn nicht aus dem Haus.«
Cribb winkte dem Mann mit seiner vierfingrigen
Linken zu, und dieser erwiderte den Gruß, indem er etwas zögernd die Krempe seiner
Melone berührte.
»Wie gefällt Ihnen Mister Skimpole?«, fragte
Cribb.
Moon verzog das
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