Das also ist mein Leben - Chbosky, S: Das also ist mein Leben - The Perks of Being a Wallflower
schien es, als wäre das Schlimme von letzter Nacht verschwunden. Aber es fühlte sich trotzdem mehr wie ein Lebewohl als ein »Bis bald« an.
Die Sache war, dass ich gar nicht weinte. Ich wusste einfach nicht, was ich fühlen sollte.
Schließlich kletterte Sam in den Pick-up, und Patrick startete den Motor. Ein toller Song lief. Und alle lächelten. Auch ich. Aber ich war schon gar nicht mehr da.
Erst als ich die Autos nicht mehr sehen konnte, kam ich wieder zu mir – und begann mich wieder elend zu fühlen. Und diesmal war es noch schlimmer. Mary Elizabeth und die anderen weinten ein bisschen, und sie fragte mich, ob ich mit ins Big Boy wolle. Ich sagte, ich müsse nach Hause.
»Alles okay, Charlie?«, fragte Mary Elizabeth dann. Ich muss wohl wieder ziemlich schlecht ausgesehen haben.
»Es geht mir gut. Ich bin nur müde«, log ich. Dann stieg ich in Dads Wagen und fuhr los. Und ich konnte diese ganzen Songs im Radio hören – dabei war das Radio gar nicht an. Und als ich in der Einfahrt hielt, vergaß ich, den Motor abzustellen. Ich legte mich einfach auf das Sofa im Wohnzimmer. Und ich konnte diese ganzen Fernsehshows sehen – dabei war der Fernseher gar nicht an.
Ich habe keine Ahnung, was mit mir nicht stimmt. Es ist, als ob ich nichts anderes tun könnte, als diesen Unsinn zu schreiben, damit ich nicht auseinanderbreche. Sam ist fort. Und Patrick wird ein paar Tage lang nicht daheim sein. Und mit Mary Elizabeth oder sonst jemandem von meinen Freunden oder meinem Bruder oder sonst jemandem von meiner Familie kann ich einfach nicht reden. Außer mit meiner Tante Helen. Aber sie ist fort. Und wenn sie hier wäre, könnte ich mit ihr auch nicht reden – denn allmählich kommt es mir so vor, als ob das, was ich letzte Nacht von ihr geträumt habe, wirklich geschehen ist. Und die Fragen meines Psychiaters vielleicht doch nicht so seltsam waren.
Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Ich weiß, dass manche Menschen es viel schwerer haben. Ich weiß das, aber es bricht trotzdem über mich herein, und ich muss die ganze Zeit daran denken, dass der kleine Junge, der mit seiner Mutter Pommes in der Mall aß, eines Tages groß ist und meine Schwester schlägt. Ich gäbe alles, nicht daran zu denken. Ich weiß, dass ich wieder zu schnell denke und alles nur in meinem Kopf ist, so wie die Trance, es ist aber da, und es will nicht mehr weggehen. Ich sehe ihn einfach immerzu, und immerzu schlägt er meine Schwester, er hört einfach nicht auf, ich will aber, dass er aufhört, weil er es doch nicht so meint, aber er hört einfach nicht auf, und ich habe keine Ahnung, was ich machen soll …
Es tut mir leid, aber ich kann nicht mehr weiterschreiben.
Trotzdem will ich Dir noch danken, dass Du einer dieser Menschen bist, die zuhören und verstehen und nicht versuchen, mit Leuten zu schlafen, auch wenn sie das könnten. Ich meine es wirklich so, und es tut mir leid, dass Du das alles hast mitmachen müssen, wo Du doch nicht einmal weißt, wer ich bin, und wir uns nie persönlich getroffen haben und ich Dir auch nicht sagen kann, wer ich bin, weil ich versprochen habe, all die kleinen Geheimnisse für mich zu behalten. Ich möchte nur nicht, dass Du denkst, ich hätte Deinen Namen einfach aus dem Telefonbuch – ich könnte es nicht ertragen, wenn Du das denkst. Bitte glaub mir also, wenn ich sage, dass es mir furchtbar ging, als Michael gestorben ist. Und dass ich in der Schule dieses Mädchen mit ihrer Freundin gesehen habe – sie hat
mich gar nicht bemerkt, denn sie hat die ganze Zeit nur von Dir geredet. Und obwohl ich Dich nicht kannte, kam es mir so vor, als ob ich es doch täte – weil es nämlich so schien, als ob Du ein wirklich netter Mensch wärst. Ein Mensch, dem es nichts ausmacht, Briefe von irgendeinem Jungen zu bekommen. Ein Mensch, der versteht, wieso das besser ist als ein Tagebuch – weil so Verbundenheit entsteht, und außerdem können Tagebücher gefunden werden. Aber ich will nicht, dass Du Dir Gedanken wegen mir machst oder glaubst, Du würdest mich kennen, oder weiter Deine Zeit mit mir verschwendest. Es tut mir so leid, dass ich Deine Zeit verschwendet habe, denn Du bedeutest mir wirklich sehr viel, und ich hoffe, dass Du ein schönes Leben hast, weil ich finde, dass Du das verdienst. Und ich hoffe, Du findest das auch. Also – Lebwohl.
Alles Liebe,
Charlie
Epilog
23. August 1992
Lieber Freund,
die letzten zwei Monate war ich in der Klinik. Gestern wurde ich
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