Das alte Haus am Meer
»Vielleicht würden Sie sich die hier schon mal ansehen, Mrs Jerningham, wir haben heute Vormittag ziemlich viel zu tun.« Damit ging sie fort.
Niemand befand sich in ihrer Nähe am Verkaufstisch. Lisle nahm einen beigen Badeanzug zur Hand und sagte:
»Ach, ich habe wohl übertrieben. Ich glaube nicht, dass ich wirklich in Gefahr war.«
»Es ist äußerst alarmierend, wenn man den Boden unter den Füßen verliert«, sagte Miss Silver. »Ich glaube, Sie erwähnten, dass Sie keine gute Schwimmerin sind.«
Lisle versuchte zu lächeln.
»Nein, ganz und gar nicht. Und die anderen sind so gut. Ich schwamm weiter raus, als ich wollte, und schaffte es nicht zurück. Und die anderen lachten, spritzten sich nass und tunkten sich gegenseitig unter, deshalb haben sie mich nicht gehört.« Sie blickte Miss Silver mit großen dunklen Augen an. »Es ist ziemlich schrecklich, wenn man ruft und keiner hört einen.«
»Aber jemand hat Sie gehört«, hakte Miss Silver abrupt nach.
Lisles goldene Wimpern bedeckten kurz ihre Augen. Röte stieg ihr in die Wangen und verschwand wieder. Leise und unsicher sagte sie:
»Ich weiß nicht, ich kann mich nicht daran erinnern. Ich hatte das Gefühl zu ertrinken, ich war schon unter Wasser, wissen Sie.«
»Wer hat Sie gerettet, Mrs Jerningham?«
»Ein Mann, der ein Stück weiter unten am Strand war. Das ist eigentlich nicht erlaubt. Das ganze Gelände gehört zu Tanfield. Aber er hatte sein Auto beim Moor geparkt und war über den Klippenpfad heruntergekommen. Ich weiß nicht einmal, wie er heißt. Keiner hat daran gedacht, ihn zu fragen. Aber er hörte mich rufen und sah, wie ich unterging. Er schwamm zu mir und zog mich raus. Es dauerte ziemlich lange, bis ich wieder zu mir kam.« Sie hielt inne und fuhr dann nach Worten ringend fort: »Es … es war so schrecklich für … meinen Mann und … die anderen, dass ich … ganz in ihrer Nähe … fast ertrunken wäre. Dale war … war außer sich. Und mein Badeanzug ist am Hals gerissen, da wo der Mann mich gepackt hatte. Deshalb muss … muss ich jetzt einen neuen kaufen. Ich war seitdem nicht mehr schwimmen, aber es hat keinen Sinn, es aufzuschieben. Die beste Art, Angst zu überwinden, ist doch, das zu tun, wovor man sich fürchtet. Finden Sie nicht?«
»Manchmal«, antwortete Miss Silver. »Aber an Ihrer Stelle würde ich darauf achten, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.«
»Ja«, sagte Lisle, »das hat Rafe auch gesagt. Aber Dale ist ein so guter Schwimmer, und er will immer, dass ich es versuche. Welchen soll ich nehmen? Gefällt ihnen der beige? Ich habe eine beige Bademütze.«
»Verlieren Sie nicht den Boden unter den Füßen«, sagte Miss Silver ernst. »Werden Sie mich besuchen kommen?«
Lisle blickte sie einen Augenblick an und sah dann weg. Ihr Blick war traurig, aber nicht verlegen.
»Es wird wohl nicht gehen.«
Miss Silver trat näher.
»Ich möchte Sie etwas fragen. Würden Sie mir bitte glauben, dass ich einen sehr guten Grund für die Frage habe, und mich nicht für unverschämt halten?«
Lisle hob den Kopf und sah sich rasch um. Sie waren allein am Verkaufstisch. Rechts von ihnen am Strumpftisch herrschte reger Betrieb. Sie hätten nicht mehr für sich sein können, wenn sie von vier Wänden umgeben gewesen wären. Sie sagte mit junger, warmer Stimme:
»Das würde ich nie denken.«
Miss Silver hüstelte.
»Sie haben mir gesagt, dass Sie ein Testament zu Gunsten Ihres Mannes gemacht haben. Ich möchte wissen, ob auch noch andere davon profitieren.«
Lisle hielt den Atem an. Damit hatte sie nicht gerechnet. Rafe … Sie wiederholte den Namen laut.
»Rafe … Rafe profitiert davon.«
»Weiß er es?«
»Ja … ich habe es ihm gesagt …«
»Eine beträchtliche Summe?«
»Zwanzigtausend Pfund.«
Miss Silver beugte sich zu ihr und sagte so leise wie möglich:
»Mrs Jerningham, folgen Sie meinem Rat. Tun Sie etwas.«
»Was soll ich denn tun?«
»Rufen Sie Ihren Anwalt an. Jetzt sofort, von hier aus. Sagen Sie ihm, dass Sie mit Ihrem Testament nicht zufrieden sind und ein neues machen wollen. Sagen Sie ihm, er soll das alte vernichten, jetzt sofort. Ich weiß nicht, ob er das nach einem Telefongespräch tun wird. Wenn er sie gut kennt und ganz sicher ist, dass Sie selbst am Apparat sind, dann macht er es vielleicht. Es ist auch nicht so wichtig. Sagen Sie es ihm und legen Sie auf. Dann gehen Sie nach Hause und teilen jedem Mitglied Ihrer Familie mit, was Sie getan haben. Egal unter welchem Vorwand, aber sagen Sie klar und
Weitere Kostenlose Bücher