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Das alte Haus am Meer

Das alte Haus am Meer

Titel: Das alte Haus am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wentworth
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ausgetrockneten Kehle. Niemand würde es hören. Es war ja niemand da, der es hören konnte, es sei denn, der Schrei erreichte Dale und brachte ihn zurück, wütend und mit der Absicht, zu beenden, was er begonnen hatte. Der Gedanke war so schrecklich, dass sie nicht wagte, erneut zu schreien. Lange, lange nicht.
    So stand sie da, das Wasser reichte ihr bis zu den Achseln, und lauschte. Kein Laut, der Hilfe hätte bedeuten können, war zu hören. Der Himmel wurde dunkler, und sie konnte die Sterne sehen. Sie dachte an all die Male, die sie in schöner Geruhsamkeit die Sterne betrachtet hatte und wusste: nie wieder werde ich sie so sehen können. Und plötzlich wurde ihr Kopf klar und ruhig. Leben, dachte sie, es geht weiter, wo du auch bist. Dale kann mich nicht töten. Ich mache weiter.
    Sie hatte keine Angst mehr. Mit ihrer ganzen Kraft schrie sie und schrie immer weiter. Dale würde jetzt nicht mehr kommen. Er war auf dem Weg zum Flugplatz. Alles war geplant. Er hatte den Wagen genommen und war davongefahren, gleich würde er beim Flugplatz ankommen, in sein Flugzeug steigen, starten und mit großem Getöse in den Himmel steigen. Vielleicht würde sie ihn hören. Vielleicht würde er über sie hinwegfliegen, um zu sehen, ob die Flut sie schon ertränkt hatte.
    Er war in Sicherheit. Niemand wusste, dass sie zusammen gewesen waren. Sie erinnerte sich, wie er gesagt hatte: »Sag niemandem etwas davon, Liebling. Wir wollen ganz für uns sein.« Er hatte sie mit einem Kuss verraten. Sie hatte niemandem etwas gesagt. Niemand hatte sie gehen sehen …
    Sie schrie erneut und wieder und wieder – verzweifelt. In diesem Augenblick ging Rafe Jerningham die Stufen zum Strand hinunter. Nach einer der längsten halben Stunden seines Lebens hatte er sich entschlossen, das zu tun, was er auf keinen Fall hatte tun wollen. Lisle war nämlich nicht so unbemerkt zu ihrem Rendezvous gegangen, wie sie glaubte. Ein verzweifelt unglücklicher junger Mann hatte zwischen den Bäumen gestanden und gesehen, wie sie zum Meer hinunterging. Noch vor ein oder zwei Tagen wäre er ihr gefolgt, aber inzwischen konnte er sich selbst nicht mehr trauen. Etwas war geschehen zwischen ihnen, ohne Worte, und so schnell und erschreckend wie ein Donnerschlag. Er hatte sie nach Ledlington gefahren. Nichts war da geschehen, auch nicht beim Mittagessen oder im Zusammenhang mit Cissies Beerdigung. Er musste es ertragen, sie so blass und angestrengt zu sehen mit dieser abwartenden Geduld in den Augen. Er hatte die Rolle gespielt, die er schon so lange inne hatte, dass niemand eine Rolle dahinter vermutete. Und dann war irgendetwas geschehen. Was? Er wusste es nicht. Aber es hatte eine unerträgliche Barriere zwischen ihnen erzeugt.
    Als er zum Dinner herunterkam, war sie nicht länger Lisle gewesen, sie war eine Fremde. Sie sah ihn nicht an. Er spürte, wie sie zusammenzuckte, wenn er sich ihr näherte. Alles, was er je von ihr gehabt hatte, war verschwunden, still, unwiderruflich, ohne Grund und unbarmherzig.
    »Ein Gott hat unsere Trennung verfügt, und zwischen unsere Küsten setzte er das unergründliche, salzige Meer.« Diese Zeilen gingen ihm durch den Kopf. Es war die bittere Wahrheit. Er akzeptierte die Trennung, wie er sie immer akzeptiert hatte. Aber dass sie ausgerechnet in diesem Moment so absolut sein sollte, das war das Schmerzhafteste. Tagelang hatte er einen Verdacht gehegt, bis sich dieser zu einer verzweifelten Gewissheit verdichtete. Dann wieder Momente, Stunden, in denen der Verdacht lediglich ein schäbiges Produkt seiner nagenden Eifersucht auf Dale zu sein schien. Eine innere Stimme, die ihn nicht schonte: »Du liebst Dales Frau, deshalb ist Dale ein Mörder. Du bist eifersüchtig, und deshalb ist Dale ein Mörder. Lisle ist die Sonne und der Mond und die Sterne, und weil du sie nicht erreichen kannst, ist Dale ein Mörder.«
    Auf der anderen Seite ein Abwägen der Tatsachen, die immer stärker gegen Dale sprachen. Lydia. Lisle fast ertrunken. Ein Autounfall. Eine tote Frau zwischen den Felsen, eine Frau, die Lisles Jacke trug. Der arme Teufel Pell bei der Vernehmung. Sein Gesicht. Lisles Jacke. Lisle
– Dale, wie er sie ansah, den Arm um sie legte, auf sie hinablächelte, als wäre sie auch für ihn die Sonne, der Mond und die Sterne. Dale, die Hauptperson in seinem Leben, bis Lisle kam.
    Diese Entfremdung zwischen ihm und Dale, zwischen ihm und Lisle …
    »Das unergründliche, salzige Meer …« Er sah Lisle vorbeigehen, ohne

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