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Das alte Haus am Meer

Das alte Haus am Meer

Titel: Das alte Haus am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wentworth
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Kopfbedeckung im Abendlicht. In diesem Augenblick dachte er nur, dass er sie gehen lassen musste, oder er hätte nicht länger an sich halten können.
    Er ließ sie gehen, machte kehrt und ging rasch in die entgegengesetzte Richtung.
Etwa eine halbe Stunde später fiel ihm ein, dass Lisle sich umgezogen hatte. Sie hatte zum Dinner schwarze Spitze getragen, aber als sie an ihm vorbeiging zum Mäuerchen am Meer, da hatte sie ein leichtes Baumwollkleid an und Strandschuhe. Strandschuhe. Dann wollte sie also nicht nur auf dem Mäuerchen sitzen, wie sie es oft in der Abendkühle tat. Dann musste sie vorhaben, zum Strand zu gehen. Warum? War sie jemals, seit er sie kannte, in der Dämmerung allein zum Strand gegangen? Sein Kummer hatte seine sonstige Geistesgegenwart eingenebelt. Und plötzlich wurde Gewissheit aus all den vagen, widersprüchlichen Ängsten und Zweifeln, den leidenschaftlichen inneren Kämpfen: Wenn Lisle weiter als bis zum Mäuerchen gegangen war, dann nicht allein. Und wenn sie nicht allein war, dann gab es nur einen Menschen, der bei ihr sein konnte, und das war Dale. Dale, der laut und deutlich verkündet hatte, er gehe zum Flugplatz.
Als Rafe in Gedanken so weit war, übernahm sein Körper die Führung, und er raste zum Haus. Es war nicht weit, weil er ohnehin auf dem Rückweg gewesen war.
Auf der Terrasse begegnete er Alicia.
»Wo ist Lisle?«
Sie sagte: »Zu Bett gegangen.«
In fünf Minuten hatte er festgestellt, dass sie nicht in ihrem Zimmer war, hatte Flanellhosen und Strandschuhe angezogen, sich eine Taschenlampe geschnappt und war wieder draußen.
Als er beim Mäuerchen ankam, blieb er einen Augenblick stehen, lauschte und rief ihren Namen.
»Lisle, Lisle, Lisle!«
Keine Stimme, keine Antwort.
Er rannte die Stufen hinunter und schaltete die Taschenlampe an. Ein wenig Licht war noch am Himmel. Meer, Strand und Himmel waren noch getrennt, aber wie eine zweite unsichtbare Flut kam die Dämmerung vom Land her und traf auf die steigende Flut des Meeres.
Unschlüssig blieb er stehen. Es gab keinen Hinweis darauf, in welche Richtung er gehen sollte. Aber wenn die Angst, die ihn hierher gebracht hatte, und der kalte Schweiß mehr Grund hatten als eine entartete Fantasie, dann musste er Lisle bei den Shepstone-Felsen suchen. Dem wildesten, gefährlichsten Teil der Küste, dem einsamsten – um diese Uhrzeit so einsam wie ein Mörder es sich nur wünschen konnte. Es war undenkbar, dass Lisle allein in diese Richtung gegangen wäre. Und wenn sie nicht allein war, wohin war sie gebracht worden, und wie konnte er sie finden?
Während ihm diese Fragen durch den Kopf gingen, leuchtete er mit der Taschenlampe in alle Richtungen. Nicht viele Menschen kamen hierher. Hatte man erst einmal die direkte Umgebung der Treppe hinter sich gelassen, war der Sand so glatt und spurenlos wie die Flut ihn hinterlassen hatte. Das Wasser war noch nicht ganz bis zur Mauer gestiegen. In dem noch trockenen Sand direkt vor seinen Füßen waren natürlich keine Spuren. Aber ein Stück weiter fand die Taschenlampe, wonach er suchte: Lisles Fußspuren, die Richtung Felsen gingen, und die größeren, tieferen Abdrücke, die zu Dale gehörten.
Er war ihnen ein Stück gefolgt, da fand er im Schein der Lampe ein zweites Paar Spuren – Dales Spuren, die allein zurückkamen. Sie kreuzten die entgegenlaufenden Spuren und verliefen sich im trockenen Sand. Dies war überdeutlich, und grauenvoll zu interpretieren. Zwei waren weggegangen, und nur einer zurückgekehrt. In wenigen Stunden würden die verheerenden Beweise von der Flut vernichtet sein und nur unschuldiger, glatter Sand zurückbleiben. Aber das Schicksal hatte Dale diese Stunden nicht gewährt.
In Rafe wurde es kalt und still. Das Einzige, was jetzt noch zählte in der Welt, war Lisle zu finden, tot oder lebendig, und es ging ihm durch den Sinn, dass Dale sie diesmal nicht lebendig hatte davonkommen lassen. Er dachte es ganz ruhig, denn in dem Moment, als er die einzelne Spur zurückkommen sah, erstarb in ihm die Fähigkeit zu fühlen. Er verspürte keine Qual, und er spürte seinen Körper nicht. Geblieben war die Fähigkeit zu denken – klar, scharf, unbehindert von störenden Gefühlen.
Er folgte den Spuren zu der spitz zulaufenden Sandbank und dem Riff hinter den Shepstone-Felsen. Aber schon bald verloren sich die Spuren unter den ersten ankommenden Flutwellen. Die Lampe verschwand in seiner Tasche und er ging weiter, wadentief, knietief, brusttief und dann, immer gegen das

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