Das alte Königreich 02 - Lirael
echter Mensch oder ein schuldbeladener Charterträger war – oder vielleicht gar ein Geschöpf Freier Magie, mächtig genug, den Perimeter zu überqueren, ohne entdeckt zu werden.
Bei dieser Vorstellung biss Sam sich so fest auf die Lippe, dass er vor Schmerz aufschrie. Er konsultierte seinen Almanach, nach dem der Fünfzehnte vor drei Tagen gewesen war. Nick musste die Mauer also bereits überquert haben. Das hieß, es war zu spät, ihn abzufangen; nicht einmal mit einem Papiersegler wäre es noch zu schaffen. Es brächte auch nichts mehr, einen Kurierfalken mit Anweisungen für die Wachen zu senden: Nick hatte ein Visum für sich und einen Diener. Inzwischen befand er sich wahrscheinlich im Grenzgebiet und näherte sich Kante.
Kante! Sam biss sich noch fester auf die Lippe. Das war viel zu nahe am Roten See und an dem Gebiet, wo die Nekromantin Chlorr die Steine vernichtet hatte und wo sich jetzt der Feind befand und seine Pläne gegen das Königreich ausbrütete. Es war der schlimmste Ort, an den Nick sich begeben konnte!
Ein Klopfen an der Tür riss Sam aus seinen Gedanken. Gereizt rief er: »Wer ist da?«
»Ich«, rief Ellimere und war bereits durch die Tür. »Ich hoffe, ich störe dich nicht bei der Erschaffung von etwas Bedeutendem?«
»Nein«, antwortete Sam wachsam. Er deutete schulterzuckend auf seinen Werktisch und gab ihr auf diese Weise zu verstehen, dass er mit der Arbeit nicht so recht vorankam.
Ellimere schaute sich interessiert um, denn üblicherweise schob Sam sie immer gleich aus dem Raum, wenn sie ihn besuchen wollte. Sam hatte das kleine Turmzimmer als Geschenk zu seinem sechzehnten Geburtstag bekommen und es seither ausgiebig genutzt. Momentan standen die beiden Werktische voller Gerätschaften, die Ellimere fremd waren. Sie erblickte auch Cricketspieler-Figürchen, dünne Gold- und Silberbarren, Spulen mit Bronzedraht, verstreut liegende Saphire und eine kleine, aber noch rauchende Esse, die in den ehemaligen Kamin des Zimmers eingebaut war.
Und überall war Chartermagie. Schwindende Charterzeichen schwebten in der Luft, krochen träge über Wände und Decke und sammelten sich am Kamin. Offensichtlich schuf Sameth keinen einfachen Modeschmuck oder die versprochenen Tennisschläger.
»Was tust du zurzeit?«, fragte Ellimere neugierig. Einige der schwindenden Chartersymbole waren überaus mächtig – Zeichen, die sie nicht ohne weiteres benutzen würde.
»Nichts, was dich interessieren würde«, erwiderte Sam kurz angebunden.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Ellimere gereizt.
»Schon gut, schon gut. Ich mache Spielzeugfiguren«, knurrte Sam und hob den kleinen Schlagmann hoch, der plötzlich den winzigen Schläger schwang, ehe er wieder reglos verharrte. »Ich bastle Spielzeug. Ich weiß, dass das keine passende Beschäftigung für einen Prinzen ist und dass ich schlafen sollte, um frisch zu sein für einen schönen Tag mit Tanzunterricht und Schiedsgericht, aber ich
kann
einfach nicht schlafen.«
»Ich auch nicht«, gestand Ellimere, setzte sich auf den freien Stuhl und fügte hinzu: »Ich mache mir Sorgen um Mutter.«
»Sie sagte, dass ihr Bein wieder heilen wird. Das machen die Großen Steine.«
»Dieses Mal, ja. Sie braucht Hilfe bei der Arbeit, Sam, und du bist der Einzige, der ihr helfen kann.«
»Ich weiß«, murmelte Sam. Er wich ihrem Blick aus und schaute auf Nicks Brief.
»Nun ja«, fuhr Ellimere seltsam verlegen fort. »Ich wollte dir nur sagen… du musst lernen, Abhorsen zu sein. Es gibt im Augenblick nichts Wichtigeres, Sam. Wenn du mehr Zeit dazu brauchst, musst du es nur sagen, dann ändere ich den Plan, der für dich aufgestellt wurde.«
Sam blickte sie überrascht an. »Du meinst, du würdest mir den Tanz des Vogels ersparen? Und diese öden Nachmittagspartys mit den dummen Schwestern deiner Freundinnen?«
»Sie sind nicht…«, begann Ellimere, holte dann aber tief Luft. »Ja. Alles ist nun anders. Wir wissen jetzt, was vorgeht. Ich selbst werde mehr Zeit bei den Gardisten verbringen. Ich muss bereit sein.«
»Bereit sein?«, fragte Sam. »So bald schon?«
»Ja«, antwortete Ellimere. »Selbst wenn Mutter und Vater in Ancelstierre Erfolg haben, wird es Schwierigkeiten geben. Wer immer hinter alledem steckt – er wird nicht untätig bleiben, während wir seine Pläne aufzuhalten versuchen. Etwas wird geschehen und wir müssen bereit sein.
Du
musst bereit sein, Sam. Das ist alles, was ich sagen wollte.« Sie stand auf und ging.
Sam starrte ins
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