Das alte Königreich 02 - Lirael
und stand neben dem Mann. Sie konnte seinen rasselnden Atem hören, einen Hauch von Schweiß riechen und die Hitze und Luftfeuchtigkeit eines Sommertages spüren. Und sie roch den schrecklichen Gestank von Freier Magie, der stärker und übler war, als sie es sich je vorgestellt hätte, stärker noch als in der Erinnerung an den Stilken. Der üble Geruch war so stark, dass ihr Gallenflüssigkeit in die Kehle stieg. Lirael schluckte sie hinunter, und vor ihren Augen begannen Pünktchen zu tanzen.
30
NICHOLAS UND DIE GRUBE
Er schien jung zu sein, neunzehn oder zwanzig, also ungefähr in Liraels Alter. Und er war offensichtlich krank. Er war hoch gewachsen, stand aber gebeugt, als litte er unter unerträglichen Schmerzen. Sein blondes, zerzaustes Haar hing in feuchten Strähnen herab. Seine Haut war an den Wangen gerötet, um die Lippen und Augen dagegen von einem ungesunden Grau. Der Blick der blauen Augen war stumpf. In einer Hand hielt er eine Sonnenbrille, von der ein Glas zersprungen und deren Fassung mit Schnur zusammengeflickt war.
Er stand auf einem Hügel, der aus loser Erde aufgeschüttet war, und spähte kurzsichtig zu einer tiefen Grube hinunter: eine riesige, klaffende Ausschachtung im Boden. Diese gewaltige Grube – genauer gesagt das, was sich darin befand – war die Quelle Freier Magie, die Liraels Übelkeit verursachte, obwohl sie jetzt nur in der Vision zu Sehen war. Sie spürte kalte, schreckliche Wellen aus der narbigen Erde bis in ihre Knochen pulsieren.
Die Grube war offenbar frisch ausgehoben und wenigstens so groß wie das Untere Refektorium, das vierhundert Personen fasste. Ein spiralförmiger Pfad führte in die dunkle Tiefe. Wie tief die Grube war, vermochte Lirael nicht zu erkennen. Sie sah nur, dass Körbe mit Erde und Gestein nach oben und leere Körbe nach unten geschafft wurden – von langsamen, müden, Menschen ähnelnden Gestalten, die Lirael ganz merkwürdig vorkamen. Ihre Kleidung war schmutzig und zerrissen; trotzdem sah sie, dass Schnitt und Farbe ganz anders waren als bei der Kleidung, die sie kannte. Und fast alle trugen blaue Hüte oder die geknoteten Überreste blauer Kopftücher.
Lirael fragte sich, wie diese seltsamen Geschöpfe bei dem durchdringenden Gestank Freier Magie arbeiten konnten, betrachtete sie genauer – und schrie auf, versuchte zurückzuweichen, doch die Vision bannte sie auf den Fleck.
Es waren keine Menschen mehr, sondern Tote. Jetzt konnte Lirael auch die Kälte des Todes ganz in der Nähe spüren. Diese Arbeiter waren Totenhände, versklavt vom Willen eines Nekromanten. Die blauen Hüte beschatteten blicklose Augenhöhlen, und die blauen Kopftücher wanden sich um verwesende Schädel.
Lirael kämpfte ihre Übelkeit nieder und blickte rasch zu dem jungen Mann, voller Furcht, dass er der Nekromant war und sie irgendwie sehen könnte. Doch er hatte kein Charterzeichen auf der Stirn – weder das einer guten Magie noch eines, das zur Freien Magie pervertiert war. Seine Stirn war rein, abgesehen von schmutzigen Schweißperlen, die den Staub aus der Luft aufgefangen hatten. Auch Glocken waren nicht zu sehen.
Jetzt schaute er zum Himmel und schüttelte ein metallenes Objekt an seinem Handgelenk. Vielleicht ist es ein Ritual, dachte Lirael. Er tat ihr plötzlich Leid, und sie hatte das Bedürfnis, mit den Fingerspitzen sanft seinen Hals hinter den Ohren zu berühren. Sie streckte bereits die Hand aus, als sie plötzlich daran erinnert wurde, wo und was sie war. Der Mann öffnete den Mund:
»Verflucht!«, murmelte er. »Warum funktioniert nichts?«
Er senkte den Arm, schaute jedoch weiterhin nach oben. Lirael folgte seinem Blick und sah nahe, tief hängende Gewitterwolken. Blitze fuhren heraus, doch es gab keine kühle Brise, keinen Tropfen Regen. Nur die schier unerträgliche Glut und die Blitze.
Plötzlich schoss ein blendender Blitz in die Grube und erhellte die schwarze Tiefe. In diesem Augenblick sah Lirael Hunderte von Totenhänden, die mit Werkzeugen gruben, sofern sie welche hatten; wenn nicht, wühlten sie mit ihren verrottenden Händen. Sie achteten nicht auf den Blitz, der mehrere von ihnen verbrannte, auch nicht auf den betäubenden Donner, der fast unmittelbar folgte.
Schon Sekunden später schlug ein zweiter Blitz ein, offenbar an genau der gleichen Stelle. Dann noch einer und noch einer; immer wieder krachte Donner und ließ den Boden unter Liraels Füßen erbeben.
»Vier in ungefähr fünfzig Sekunden«, sagte der Mann zu
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