Das alte Königreich 02 - Lirael
sich selbst. »Sie werden häufiger. Hedge!«
Lirael verstand diesen letzten Ruf nicht, bis ein Mann unten aus der Grube trat und winkte, ein dünner, kahl werdender Mann in Lederrüstung mit goldgeätztem, rot emailliertem Stahlschutz am Hals, an den Ellbogen und den Knien. Er hatte ein Schwert an seiner Seite und trug ein Glockenbandelier um die Brust, aus dessen roten Lederbeuteln Ebenholzgriffe ragten. Pervertierte Charterzeichen zogen sich sowohl über das Holz als auch über das Leder und hinterließen ein merkwürdiges Glitzern.
Selbst aus dieser Entfernung konnte Lirael Blut und heißes Metall an dem Fremden riechen. Er musste der Nekromant sein, dem die Totenhände dienten – oder vielleicht einer von mehreren Nekromanten, denn es gab eine Heerschar Toter. Doch dieser Mann war nicht die Quelle der Freien Magie, die auf Liraels Lippen und ihrer Zunge brannte. In der Tiefe der Grube lag etwas viel Schlimmeres verborgen.
»Ja, Meister Nicholas?«, rief der Mann hinauf. Lirael bemerkte, dass er die zwei Totenhände, die ihm folgten, zurück in die Dunkelheit schickte, als wollte er nicht, dass sie zu genau gesehen werden konnten.
»Die Blitze folgen jetzt dichter aufeinander«, sagte der junge Mann, dessen Namen Lirael nun kannte: Nicholas. Es kam ihr sehr seltsam vor, dass jemand, der nicht einmal ein Charterzeichen hatte, von einem Nekromanten »Meister« genannt wurde.
»Wir müssen schon sehr dicht dran sein«, fügte er mit nun heiserer Stimme hinzu. »Fragt die Männer, ob sie bereit sind, heute Nacht eine zusätzliche Schicht einzulegen.«
»Oh, ganz sicher!«, rief der Nekromant lachend. »Wollt Ihr herunterkommen?«
Nicholas schüttelte den Kopf. Er musste sich mehrere Male räuspern, ehe er antworten konnte. »Nein, mir ist wieder übel, Hedge. Ich werde mich in meinem Zelt niederlegen. Ich sehe es mir später an. Aber Ihr müsst mich rufen, wenn Ihr etwas findet. Ich nehme an, es ist aus Metall – aus glänzendem Metall«, fuhr er fort, und es hatte den Anschein, als sähe er es vor sich. »Zwei glänzende metallene Hemisphären – Halbkugeln –, jede an die sieben Fuß groß. Wir müssen sie finden, rasch!«
Hedge verbeugte sich knapp, antwortete jedoch nicht. Er kletterte aus der Grube und stieg den aufgeschütteten Hügel zu Nicholas hinauf.
»Wer ist da bei Euch?«, brüllte Hedge und deutete nach oben.
Nicholas schaute sich um, sah jedoch nichts als das Nachglühen des Blitzes und das Bild der glänzenden Hemisphären, das ihm nicht mehr aus dem Kopf ging, als wäre es in sein Bewusstsein eingebrannt.
»Niemand«, murmelte er und blickte direkt auf Lirael. »Ich bin müde. Aber es wird eine große Entdeckung…«
»Spionin! Du wirst zu Füßen meines Gebieters verbrennen!«
Flammen sprangen aus den Händen des Nekromanten, sprangen auf den Boden und rasten als rotes Feuer, von schwarzem Rauch umhüllt, den Hügel hinauf, geradewegs auf Lirael zu.
In diesem Moment fiel auch Nicholas’ Blick auf sie. »Oh!«, sagte er. »Ihr seid vermutlich nur eine weitere Halluzination…«
Plötzlich packten Hände ihre Schultern, und sie wurde ins Observatorium zurückgezogen, ehe das rote Feuer dort zuschlug, wo sie gerade noch gestanden hatte. Das Feuer wurde zu einer von schwärzestem Rauch umgebenen Flammensäule.
Eis zersprang, und Lirael blinzelte. Als sie die Augen aufschlug, stand sie zwischen Ryelle und Sanar in einem Becken voll Scherben, und Splitter blauen Eises bedeckten ihren Kopf und die Schultern.
»Du hast Gesehen«, sagte Ryelle, und es war keine Frage.
»Ja«, erwiderte Lirael, zutiefst erschüttert von der Erfahrung, die sie hatte machen dürfen, und von dem, was sie Gesehen hatte. »Ist es so, wenn man die Sicht hat?«
»Nicht ganz«, antwortete Sanar. »Wir Sehen hauptsächlich flüchtige Fragmente aus verschiedenen Teilen der Zukunft. Nur gemeinsam in der Wache können wir die Vision hier im Observatorium zusammenfügen. Doch selbst dann wird nur die Person, die steht, wo du gestanden hast, alles Sehen.«
Lirael dachte darüber nach und legte den Kopf zurück. Eis troff von ihrem Hals unter ihre Bluse. Die ferne Decke war wieder eine Eisscheibe wie zuvor. Dann senkte Lirael den Kopf und schaute auf die Clayr, die allesamt zum Aufbruch rüsteten. Keine sprach ein Wort, keine blickte zurück. Der äußere Kreis war bereits gegangen, ehe Lirael es auch nur bemerkt hatte; nun sammelte der nächste sich zu einer langen Reihe und verschwand durch eine andere Tür. Es
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