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Das alte Königreich 02 - Lirael

Titel: Das alte Königreich 02 - Lirael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Garth Nix
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Dunkelheit gab.
    Als Lirael sich der vielen Clayr bewusst wurde, schaute sie instinktiv zu Boden, damit sie niemandes Blick begegnen musste. Doch als sie vorsichtig durch den Vorhang ihres versengten Haares spähte, der ihr ins Gesicht hing, erkannte sie, dass alle anderen nicht auf sie, sondern nach oben blickten. Die Decke der Halle war völlig eben und glatt – eine einzige, ungeheure Scheibe aus klarem Eis, wie ein riesiges Fenster.
    »Ja«, sagte Sanar, als sie Liraels Verwunderung bemerkte. »Darauf richten wir unsere Sicht, damit alle Bruchteile der Vision eins werden und alle sie Sehen können.«
    »Ich glaube, wir können jetzt beginnen«, rief Ryelle und ließ den Blick über die stummen Reihen der Clayr schweifen. Nahezu jede Erwachte Clayr hatte sich der Fünfzehnachtundsechzig-Wache angeschlossen. Sie standen um das kleine Zentrum herum, das aus Lirael, Sanar und Ryelle bestand – wie ein seltsamer, in konzentrischen Kreisen angelegter Garten aus weißen Bäumen, die Früchte aus Silber und Mondstein trugen.
    »Lasst uns beginnen!«, riefen Sanar und Ryelle. Sie hoben ihre Stäbe und schlugen sie gegeneinander wie Schwerter. Lirael fuhr zusammen, als alle Clayr einstimmten, so dass der gewaltige Ruf sie erzittern ließ.
    »Lasst uns beginnen!«
    Die Clayr in dem nächsten und kleinsten Kreis um das Zentrum fassten einander an den Händen. Der nächste, größere Kreis folgte ihrem Beispiel. Dann schlossen sich alle Kreise bis zum größten im Observatorium.
    »Lasst uns Sehen!«, riefen Sanar und Ryelle und schlugen wieder ihre Stäbe gegeneinander. Diesmal war Lirael innerlich auf den gewaltigen Ruf vorbereitet, doch nicht auf die Magie, die darauf folgte. Myriaden von Charterzeichen erhoben sich aus dem Eisboden und flossen durch die Clayr des ersten Kreises, bis es so viele Zeichen waren, dass sie gleichsam überquollen und in den nächsten Kreis strömten und von dort immer weiter. Die Charterzeichen stiegen die Körper der Clayr empor und wallten ihre Arme entlang wie dichter goldener Nebel.
    Lirael sah zu, wie die Magie wuchs, während sie durch jeden Kreis strömte, und wie sie sich um die Leiber ihrer Cousinen wand. Sie konnte die Charterzeichen sehen und die Magie in ihrem Herzen spüren, das heftig klopfte. Doch diese Magie blieb ihr fremd, irgendwie unerreichbar, wie noch keine andere Chartermagie zuvor.
    Dann ließen die Clayr des äußersten Kreises die Hände ihrer Nachbarinnen los und hoben die Arme der fernen, eisigen Decke entgegen. Zeichen flossen von ihnen in die Luft und schwebten aufwärts wie goldener Staub in Sonnenstrahlen. Als sie das Eis erreichten, sah es aus, als wären sie Farbstriche und das Eis eine leere Leinwand, die nur darauf wartete, zum Leben zu erwachen.
    Kreis um Kreis folgte dem jeweils vorherigen, bis die Magie emporgestiegen war und die riesige Eisdecke mit wirbelnden Charterzeichen füllte. Verzückt blickten alle Clayr darauf, und Lirael sah, dass ihre Augen sich bewegten, als beobachteten sie dort irgendetwas. Doch sie sah nichts, nur das Wirbeln von Magie, das sie nicht verstehen konnte.
    »Schau«, sagte Ryelle sanft, und ihr Stab wurde plötzlich zu einer Flasche aus hellgrünem Glas.
    »Lerne«, sagte Sanar und schwang ihren Stab in einem Muster unmittelbar über Liraels Kopf.
    Dann schüttete Ryelle den Inhalt der Flasche auf Lirael. Während die Flüssigkeit über ihren Kopf strömte, verwandelte Sanars Stab sie in Eis. Eine Scheibe reines, durchsichtiges Eis schwebte horizontal in der Luft direkt über Liraels Kopf.
    Sanar tupfte mit ihrem Stab auf diese Scheibe, worauf sie in einem tiefen, angenehmen Blau aufglühte. Erneut tupfte Sanar darauf, und das Blau floh zu den Rändern. Lirael blickte darauf und dann hindurch, und während sie schaute, erkannte sie, dass die seltsame schwebende Scheibe ihr zu Sehen half, was die Clayr Sahen. Die wirren Muster an der Eisdecke wurden klarer, deutlicher. Hunderte, wenn nicht Tausende winziger Bilder schlossen sich zu einem größeren Bild zusammen.
    Es war das Bild eines Mannes, der mit einem Fuß auf einem Stein stand und angestrengt zu Boden sah, wie Lirael jetzt erkannte.
    Seltsam. Lirael legte den Kopf zurück, um besser sehen zu können. Das machte sie für einen Moment schwindelig. Es schien ihr, als fiele sie nach oben, durch die blaue Scheibe den ganzen Weg hinauf zur Decke und in die Vision hinein. Dann ein blauer Blitz und irgendetwas, das sie erschauern ließ – und schließlich war sie dort…
    …

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