Das alte Königreich 02 - Lirael
schien viele Ausgänge aus dem Observatorium zu geben. Bald würde Lirael selbst einen davon benutzen und nie mehr zurückkommen.
Sie zwang sich, an die Vision zu denken. »Was erwartet man von mir? Was soll ich tun?«
»Wir wissen es nicht«, antwortete Ryelle. »Wir versuchen schon seit mehreren Jahren, die Gegend um den Roten See zu Sehen, doch es ist uns nie gelungen. Plötzlich Sahen wir dich in dem Raum unten, dann die Vision, die wir dir gezeigt haben, und anschließend dich und den Mann in einem Boot auf dem See. Das alles gehört zusammen, irgendwie, aber es ist uns nicht geglückt, noch mehr zu Sehen.«
»Dieser Mann namens Nicholas ist der Schlüssel«, sagte Sanar. »Sobald du ihn gefunden hast, wirst du wissen, was zu tun ist.«
»Aber er ist mit einem Nekromanten zusammen!«, rief Lirael. »Sie graben irgendetwas unsagbar Schreckliches aus. Sollten wir es nicht der Abhorsen mitteilen?«
»Wir haben Botschaften gesandt, doch die Abhorsen und der König sind in Ancelstierre, um dort Schwierigkeiten abzuwenden, die wahrscheinlich mit dem zu tun haben, was sich in dieser Grube befindet. Wir haben auch Ellimere und ihren Mitregenten benachrichtigt. Kann sein, dass sie etwas unternehmen, vielleicht gemeinsam mit Prinz Sameth, dem Abhorsen-Nachfolger. Doch was immer sie tun –
du
musst Nicholas finden. Ich weiß, dieses Treffen von zwei Personen auf einem See erscheint unbedeutend. Doch es ist die einzige Zukunft, die wir Sehen können, da uns alles andere verborgen ist. Und sie bietet uns die einzige Hoffnung, ein noch viel schrecklicheres Unheil abzuwenden.«
Lirael, deren Gesicht weiß geworden war, nickte bloß. Zu vieles war geschehen, und sie war zu müde und erschöpft, jetzt damit fertig zu werden. Doch nun sah es zumindest so aus, als würde sie nicht hinausgeworfen, sondern hätte eine Aufgabe, die nicht nur für die Clayr wichtig war, sondern für das ganze Königreich.
»Nun müssen wir dich für die Reise ausrüsten«, fügte Ryelle hinzu, der Liraels Erschöpfung nicht entging. »Gibt es etwas Persönliches, das du mitnehmen möchtest, oder etwas Besonderes, das wir dir besorgen können?«
Lirael schüttelte den Kopf. Sie wollte die Fragwürdige Hündin, doch das erschien unmöglich, wenn die Clayr sie nicht Gesehen hatten. Vielleicht war ihre Freundin für immer von ihr gegangen, weil der Zauber, der sie zu ihr gebracht hatte, nun endete…
»Ich brauche meine warmen Sachen«, flüsterte Lirael schließlich. »Und ein paar Bücher. Ich nehme an, ich sollte auch die Sachen mitnehmen, die ich gefunden habe.«
»Ja, allerdings«, pflichtete Sanar ihr bei, die offenbar neugierig war, um was es sich dabei handelte. Doch sie fragte nicht, und Lirael war nicht danach, darüber zu reden, um nicht alles noch komplizierter zu machen. Warum hatte man die Sachen für sie zurückgelassen? Von welchem Nutzen könnten sie draußen in der weiten Welt für sie sein?
»Wir müssen dir auch einen Bogen und ein Schwert besorgen«, sagte Ryelle, »wie eine Tochter der Clayr sie auf Reisen bei sich führen sollte.«
»Ich kann mit einem Schwert nicht sehr gut umgehen«, gestand Lirael leise und schluckte, weil sie »Tochter der Clayr« genannt worden war. Diese Worte, auf die sie so lange gewartet hatte, erschienen ihr plötzlich bedeutungslos. »Aber auf das Bogenschießen verstehe ich mich.«
Sie sagte nicht, dass sie deshalb so gut mit dem Kurzbogen der Clayr umgehen konnte, weil sie in der Bibliothek damit auf Ratten schoss – mit stumpfen Pfeilen, um keine Bücher zu beschädigen. Der Hündin machte es Spaß, die Pfeile zu apportieren, doch die toten Ratten, erklärte sie immer im Scherz, würde sie nur fressen, wenn Lirael sie ihr mit Kräuter und Soße zubereitete.
»Ich hoffe, du wirst weder die eine noch die andere Waffe brauchen«, sagte Sanar. Ihre Worte hallten durch die gewaltige Eishöhle. Lirael schauderte. Diese Hoffnung würde sich wahrscheinlich nicht erfüllen.
Plötzlich war es kalt. Fast alle Clayr waren binnen weniger Minuten verschwunden, als wären sie nie hier gewesen. Nur zwei bewaffnete Wächterinnen beobachteten sie vom Ende des Observatoriums. Eine war mit einem Speer bewaffnet, die andere mit einem Bogen. Lirael brauchte nicht näher an sie heranzugehen, um zu erkennen, dass es Waffen der Macht waren, in denen Chartermagie steckte.
Lirael wusste, dass die beiden Wächterinnen geblieben waren, um sich zu vergewissern, dass ihre Augen wieder verbunden wurden, bevor sie
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