Das alte Königreich 02 - Lirael
das Observatorium verließ. Sie wandte den Blick von den Wächterinnen, nahm ihr Tuch ab und faltete es.
Dann band sie es sich wieder vor die Augen und wartete darauf, dass Sanar und Ryelle sie bei den Armen nahmen.
»Es tut mir Leid«, sagten Sanar und Ryelle gleichzeitig, und ihre Stimmen verschmolzen zu einer. Es klang beinahe so, als entschuldigten sie sich nicht nur für die Augenbinde, sondern für Liraels ganzes Leben.
Als sie ihr kleines Zimmer außerhalb der Halle der Kinder erreichten, hatte Lirael seit mehr als achtzehn Stunden weder geschlafen noch gegessen. Sie taumelte vor Erschöpfung, so dass Sanar und Ryelle sie stützten. Sie war so müde, dass sie Tante Kirriths Anwesenheit gar nicht bemerkte, bis diese sie plötzlich heftig und unerwünscht umarmte.
»Was hast du jetzt wieder angestellt!«, rief Tante Kirrith, die Lirael fest an ihre Brust drückte. »Du bist zu jung, um hinaus in die Welt zu ziehen!«
»Tante!«, protestierte Lirael, die verlegen war, weil sie im Beisein Ryelles und Sanars wie ein kleines Kind behandelt wurde. Es war typisch für Tante Kirrith, sie ausgerechnet dann zu umarmen, wenn sie es nicht wollte – und es nicht zu tun, wenn sie sich danach sehnte.
»Es wird genau wie bei deiner Mutter sein«, sagte Kirrith zu den Zwillingen und Lirael zugleich. »Sich wer weiß wohin zu begeben, in wer weiß was hineingezogen zu werden, und wer weiß mit wem! Du könntest genauso zurückkommen…«
»Kirrith! Das reicht!«, rügte Sanar sie streng, was Lirael sehr überraschte. Noch nie hatte sie jemanden so zu Kirrith sprechen gehört. Offensichtlich war es auch ein Schock für Tante Kirrith, denn sie ließ Lirael los und holte tief Luft.
»So kannst du nicht mit mir reden!«, stieß sie nach mehreren tiefen Atemzügen schließlich hervor. »Ich bin Hüterin der Jungen! Ich habe hier das Sagen!«
»Und wir sind derzeit die Stimme der Clayr«, erwiderten Sanar und Ryelle mit einer Stimme und hoben die Stäbe, die sie noch immer in Händen hielten. »Uns wurde die Macht der Neuntagewache übertragen. Zweifelst du unser Recht darauf an?«
Kirrith blickte sie an und versuchte, noch tiefer Luft zu holen, was ihr jedoch misslang. Schließlich stieß sie einen tiefen Seufzer aus; es war eine – wenn auch nicht gerade respektvolle – Anerkennung von Sanar und Ryelles Autorität.
»Hol die Sachen, die du mitnehmen möchtest, Lirael«, forderte Sanar sie auf und berührte sie an der Schulter. »Wir müssen bald zum Schiff hinunter. Kirrith, wenn wir dich draußen sprechen könnten…?«
Lirael nickte müde und ging zu der Kommode mit ihrer Kleidung, während die anderen das Zimmer verließen und die Tür schlossen. Ohne hinzusehen griff Lirael in die Lade. Ihre Hand berührte etwas Hartes, und ihre Finger schlossen sich darum. Es war die alte Speckstein-Statuette der Hündin, die sie im Raum des Stilken gefunden hatte und die nach Erschaffung der Fragwürdigen Hündin verschwunden war.
Lirael drückte sie fest an die Brust, und eine schwache Hoffnung verdrängte ihre Erschöpfung. Es war zwar nicht die Hündin, aber es war ein Hinweis, dass sie zurückgerufen werden konnte. Lächelnd steckte sie die Statuette in die Tasche ihres frischen Wamses und vergewisserte sich, dass die winzige Specksteinschnauze nicht herausspitzte. Dann schob sie den Dunkelspiegel in dieselbe Tasche und die Panflöte in die andere. Das
Buch des Erinnerns und Vergessens
verstaute sie in einem kleinen Umhängebeutel, der dafür wie geschaffen zu sein schien. Die mechanische Notfallmaus schob sie zusammen mit der Trillerpfeife in eine Ecke ihrer Truhe. Dort, wo sie hinging, konnte ihr weder das eine noch das andere helfen.
Lirael zog sich aus und wusch sich, wobei sie dankbar war für das größere Zimmer mit dem kleinen Bad, das ihr zu ihrem achtzehnten Geburtstag überlassen worden war. Sie überlegte, ob sie etwas anziehen sollte, das sie nicht gleich als Clayr kenntlich machte. Dann aber schlüpfte sie wieder in die Arbeitskleidung einer Bibliotheksassistentin zweiten Grades – schließlich war sie eine. Sie hatte sich das rote Wams verdient. Niemand konnte es ihr wegnehmen, selbst wenn sie keine Erwachte Clayr war.
Sie hatte gerade einige Kleidungsstücke zum Wechseln in ihren Umhang gerollt und dachte über die Nützlichkeit ihres schweren Wollmantels im Spätfrühjahr und Sommer nach, als jemand an die Tür klopfte und sofort ins Zimmer trat: Tante Kirrith.
»Ich wollte nichts Schlechtes über
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