Das alte Königreich 02 - Lirael
fühlen, spürte seine Kälte in ihre Wangenknochen dringen, in ihre Lippen und ihre ausgestreckten Hände. Es war ein seltsames Gefühl, da die Sonne noch heiß auf ihren Nacken schien.
Es wurde immer kälter, während Frost ihre Füße und Beine emporstieg. Sie spürte eine Berührung am Knie, die nichts mit dem sanften Tupfen der kalten Schnauze der Hündin zu tun hatte, sondern sich anfühlte, als würde sie zuerst von einer schwachen, dann zunehmend stärkeren Strömung erfasst, die sie mit sich reißen und untertauchen wollte.
Lirael öffnete die Augen, konnte jedoch weder die Insel noch den blauen Himmel oder die Sonne sehen. Schwarzes Wasser, dick wie Blut, floss um ihre Beine. Das Licht war stumpfgrau, und ein flacher Horizont erstreckte sich, so weit das Auge reichte.
Lirael schauderte, doch nicht nur von der Kälte. Sie hatte wie beabsichtigt den Tod betreten. Irgendwo in der Ferne rauschte ein Wasserfall. Nach der Beschreibung im Buch musste dort das Erste Tor sein.
Wieder zog der Fluss an ihr, und ohne zu überlegen, ging Lirael einige Schritte mit ihm. Erneut zog er, diesmal viel stärker, und die Kälte breitete sich bis in ihre Knochen aus.
Es wäre ein Leichtes, diese Kälte durch den ganzen Körper ziehen und sich von der Strömung mitnehmen zu lassen…
»Nein!«, rief Lirael und zwang sich, einen Schritt rückwärts zu tun. Genau davor hatte das Buch sie gewarnt: Die Kraft dieses Flusses lag nicht nur in seiner Strömung – Lirael musste sich auch seinem Zwang widersetzen, tiefer in den Tod zu schreiten oder sich willenlos fallen zu lassen, um im dunklen Wasser zu versinken.
Zum Glück standen in dem Buch aber auch Dinge, die nicht den Tod, sondern das Leben behandelten. Lirael konnte den Weg zurück ins Leben spüren und wusste instinktiv, wohin sie musste und wie sie dorthin kam. Es war eine unendliche Erleichterung für sie.
Vom fernen Rauschen des Ersten Tores abgesehen, war nichts zu hören und keine Bewegung im Wasser zu spüren. Sie lauschte aufmerksam, mit angespannten Nerven und bereit, jederzeit zu fliehen. Doch da war nichts, nicht einmal ein Plätschern.
Plötzlich zuckte ihr Todessinn, und sie blickte rasch wieder den Fluss hinauf und hinunter. Einen Moment glaubte sie etwas zu sehen, das sich an der Oberfläche bewegte… ein dünner Strich Dunkelheit, der sich unter dem Wasser bewegte, weiter in den Tod hinein. Dann war es verschwunden, und Lirael konnte es weder sehen noch spüren. Bald war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob da überhaupt etwas gewesen war.
Seufzend schob sie ihr Schwert in die Scheide zurück, steckte die Panflöte wieder in die Wamstasche und holte den Dunkelspiegel hervor. Hier in der Ersten Todeszone konnte sie nur ein kleines Stück in die Vergangenheit blicken. Um weiter zu sehen, musste sie tiefer eindringen, am Ersten Tor vorbei, vielleicht sogar bis zum Zweiten. Doch heute wollte sie nur ungefähr zwanzig Jahre in die Vergangenheit schauen.
Das Klicken beim Öffnen des Spiegels erschien ihr viel zu laut; das Geräusch hallte übers dunkle Wasser. Lirael zuckte bei diesem Laut zusammen – und schrie, als es hinter ihr laut platschte.
Unwillkürlich sprang sie tiefer in den Tod, nahm den Spiegel in die Linke und zog ihr Schwert, noch ehe sie wusste, was eigentlich los war.
»Ich bin es nur«, sagte die Hündin. Ihr Schwanz schlug beim Wedeln auf die Wasseroberfläche. »Ich hab mich beim Warten gelangweilt.«
»Wie bist du hierher gekommen?«, flüsterte Lirael und steckte das Schwert mit zitternder Hand wieder ein. »Du hast mich erschreckt.«
»Ich bin dir gefolgt«, erklärte die Hündin. »Es ist auch nicht anders als ein Spaziergang.«
Nicht zum ersten Mal fragte sich Lirael, was die Hündin wirklich war und über welche Kräfte sie verfügte. Doch jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Das
Buch des Erinnerns und Vergessens
hatte sie davor gewarnt, im Tod zu lange an einer Stelle zu verweilen.
»Und wer soll jetzt meinen Körper beschützen, wenn du hier bist?«, fragte sie ungehalten. Falls ihrem Körper im Leben etwas zustieß, bliebe ihr keine Wahl, als dem Fluss weiter zu folgen oder selbst eine Art Toter Geist zu werden, der ewig versuchte, ins Leben zurückzukehren, indem er jemandem den Körper raubte. Oder ein Schatten zu werden, der Blut und Leben trank, um sich vom Tod fern zu halten.
»Ich werde spüren, wenn jemand in die Nähe deines Körpers kommt«, versicherte ihr die Hündin und schnüffelte am Fluss.
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