Das alte Königreich 02 - Lirael
Halskette aus Saphiren und Brillanten.
Als Lirael sich noch stärker konzentrierte, wurde die Vision der Vergangenheit schärfer und richtete sich auf die beiden Personen, als sammle sich alle Farbe und alles Licht um sie. Gleichzeitig verdüsterte sich der Blick auf den Todesfluss. Dann hörte Lirael, dass ihre Mutter und der Mann ein Gespräch führten – auf höfische Art, wie man es im Gletscher selten tat. Offenbar kannten sie einander nicht sehr gut.
»Ich habe viele seltsame Dinge unter diesem Dach gehört, Mistress«, sagte der Mann, während er sich Wein nachschenkte und einen Lakaien fortwinkte, der ihn bedienen wollte. »Doch nie zuvor etwas so Seltsames wie dies hier.«
»Es ist wahrhaftig nichts, worauf ich erpicht bin«, entgegnete die Frau, deren Stimme Lirael ungewöhnlich vertraut war. Konnte sie sich vielleicht daran erinnern? Aber sie war erst fünf gewesen, als Arielle sie im Stich gelassen hatte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass diese Stimme sie an die Kirriths erinnerte, obgleich sie lieblicher klang, als Kirriths Stimme je gewesen war.
»Und keine Eurer visionär begabten Schwestern hat Gesehen, was Ihr von mir wollt?«, fragte der Mann. »Keine der Neuntagewache?«
»Keine«, antwortete Arielle. Sie senkte den Kopf und errötete sogar im Nacken. Lirael beobachtete sie erstaunt. Ihre eigene Mutter – verlegen! Aber die Arielle, die Lirael hier sah, war kaum älter als sie jetzt. Der Mann dachte offenbar etwas Ähnliches, denn er sagte: »Meine Gemahlin ist vor achtzehn Jahren verschieden, aber ich habe eine Tochter, die ungefähr in Eurem Alter sein dürfte. Ich bin nicht unvertraut mit den… den…«
»Fantastereien junger Frauen? Der Vernarrtheit Jugendlicher?«, unterbrach ihn Arielle und blickte ihn verärgert an. »Ich bin fünfundzwanzig, Sire, und kein jungfräuliches Ding, das immerzu ein Bild ihres Ersehnten vor Augen hat. Ich bin eine Tochter der Clayr. Allein meine Sicht hat mich an diesen Ort getrieben, um mit einem Mann zu liegen, den ich nie kennen gelernt habe und der alt genug ist, mein Vater zu sein.«
Der Mann stellte seinen Pokal ab und lächelte reumütig, aber seine Augen waren müde und blieben von dem Lächeln unberührt.
»Ich bitte um Verzeihung, Mistress. – Nun, ich muss morgen aufbrechen und mich vielen Gefahren stellen. Ich habe keine Zeit für Gedanken an die Liebe, und als Vater habe ich mich schon einmal als ungeeignet erwiesen. Selbst wenn ich hier bei Euch bleiben könnte, würde das Kind, das Ihr gebärt, wenig von seinem Vater sehen.«
»Es geht hier nicht um Liebe«, entgegnete Arielle leise und erwiderte seinen Blick. »Und ein Kind lässt sich in einer einzigen Nacht ebenso gut zeugen wie in einem ganzen Jahr mühsamer Versuche. Unsere Tochter wird leben, denn ich habe sie Gesehen. Und was ihren verschwundenen Vater betrifft – ich fürchte, dass sie auch ihre Mutter nicht sehr lange haben wird.«
»Ihr sprecht von Gewissheit«, sagte der Mann. »Doch die Clayr Sehen viele Fäden, welche die Zukunft so oder so spinnen wird.«
»Ich Sehe in dieser Hinsicht nur einen einzigen Faden, Sire.« Arielle stand auf, schritt langsam zum anderen Ende der Tafel, nahm die bleiche Hand des Mannes in ihre braunen Finger und sprach mit ruhiger Stimme: »Ich wurde durch die Visionen hierher gerufen, die mein Blut mir gewährte, so wie Ihr von Eurem Blut gelenkt werdet. Es steht fest, dass es geschieht, Cousin. Vergessen wir die tieferen Gründe… vielleicht können wir uns ja an unserer einzigen gemeinsamen Nacht erfreuen. Begeben wir uns zu Bett.«
Der Mann zögerte. Dann lachte er, hob Arielies Hand an die Lippen und hauchte einen Kuss darauf.
»Wir werden unsere Nacht haben.« Er erhob sich. »Ich weiß nicht, was das alles bedeutet oder was die Zukunft hier sichern will. Doch ausnahmsweise bin ich nun der Pflichten und Sorgen leid. Wie du sagst, meine teure Cousine: Begeben wir uns zu Bett!«
Die beiden umarmten sich, und Lirael schloss ihr rechtes Auge aus Verlegenheit und Scham. Wenn sie weiter zuschaute, könnte sie vielleicht den Augenblick ihrer eigenen Zeugung mit ansehen, und daran mochte sie gar nicht denken. Doch selbst mit dem geschlossenen Auge hielt die Vision an, bis Lirael sie fortblinzelte, diesmal mit einer echten Träne.
Insgeheim hatte sie mehr von dieser Vision erwartet, vielleicht einen Hinweis auf eine verbotene Beziehung ihrer Eltern oder auf eine große, unerfüllbare Liebe zwischen ihnen. Doch wie es aussah, war sie das
Weitere Kostenlose Bücher