Das alte Königreich 02 - Lirael
Ergebnis einer einzigen Nacht der geschlechtlichen Vereinigung, die entweder vorherbestimmt gewesen war oder das Ergebnis zu großer Fantasien ihrer Mutter. Lirael wusste nicht, was schlimmer wäre. Und sie hatte immer noch keine Gewissheit, wer ihr Vater gewesen war… obwohl einiges, was sie gesehen und gehört hatte, auf eine Antwort schließen ließ, über die sie gründlicher nachdenken musste. Sie klappte den Spiegel zu und schob ihn zurück in ihre Wamstasche. Erst da wurde ihr bewusst, dass das Geräusch des Ersten Tores verstummt war. Etwas kam durch den Wasserfall – irgendetwas aus den tieferen Bereichen des Todes…
36
EINER AUS DEM TOTENREICH
Wenige Sekunden nachdem Lirael sich der Stille des Ersten Tores bewusst geworden war, setzte das Rauschen des Wasserfalls wieder ein. Wer oder was auch immer das Geräusch hatte verstummen lassen, befand sich nun hier in der Ersten Zone des Todes. Zusammen mit ihr, Lirael…
Lirael spähte in die Ferne, konnte aber nichts sehen, was sich bewegte. Das graue Licht und die ebene Fläche des Flusses machten es schwer, Entfernungen zu bestimmen, und sie hatte keine Ahnung, ob das Erste Tor so nah war, wie es sich anhörte. Sie wusste, dass ein Dunstschleier das Tor verhüllte, doch auch den konnte sie nicht sehen.
Um sicherzugehen, zog Lirael das Schwert, ergriff die Panflöte und machte einige Schritte auf das Leben zu, bis sie nahe genug war, dessen Wärme auf ihrem Rücken zu spüren. Lirael wusste, sie hätte jetzt ins Leben zurückkehren sollen, doch sie war neugierig, jemanden aus dem Totenreich zu sehen, und sei es auch nur flüchtig. Dann aber verdrängte die Furcht ihre Neugier. Irgendetwas näherte sich unter Wasser, wie das Kräuseln der Oberfläche verriet, und kam direkt auf sie zu… etwas Großes, Verborgenes, das sich sogar ihren Sinnen entziehen konnte. Lirael hatte seine Anwesenheit gar nicht gespürt und das Kräuseln der Wasseroberfläche nur zufällig bemerkt.
Sofort tastete sie wieder nach dem Leben, doch in diesem Moment schoss eine Gestalt aus Feuer und Dunkelheit aus dem Wasser empor. Das monströse Geschöpf hielt eine Glocke, die machtvoll läutete und Lirael unmittelbar an der Grenze von Leben und Tod bannte.
Irgendwie wusste sie, dass es Saraneth war. Lirael spürte, wie die unbändige Kraft dieser Glocke gegen ihre sich wehrenden Muskeln kämpfte. Doch war es eine Saraneth ohne Chartermagie, und dafür gab es nur eine Erklärung: Es musste die Glocke eines Zauberers Freier Magie sein – eines Nekromanten!
Lirael konnte seinen Willen hinter der Glocke spüren. Er wollte ihren Geist beherrschen und sandte eine Woge unerbittlichen Hasses gegen ihren jämmerlichen Widerstand. Und endlich konnte Lirael ihn deutlich sehen, trotz des Dampfes, der um ihn wirbelte, als wäre er aus glühendem Eisen, das in den Fluss getaucht wurde.
Es war Hedge, der Nekromant aus der Vision, die ihr die Zwillinge gezeigt hatten. Lirael spürte die Feuer der Freien Magie in ihm brennen, die sogar Todeskälte zu besiegen vermochten.
»Knie nieder vor deinem Gebieter!«, befahl Hedge. Er schritt auf sie zu, in der einen Hand die Glocke, in der anderen ein Schwert, das mit dunklen, flüssigen Flammen brannte. Seine Stimme war rau und grausam. Feuer und Rauch drangen aus seinem Mund, der an einen Höllenschlund erinnerte.
Der Befehl des Nekromanten traf Lirael wie ein Schlag. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben und ihre Beine zitterten. Hedge hatte sie bereits in seiner Gewalt – der tiefe, befehlende Klang von Saraneth dröhnte in ihren Ohren, hallte in ihrem Kopf. Sie konnte ihn nicht verdrängen.
Der Nekromant kam noch näher, mit erhobenem Schwert, das in wenigen Augenblicken auf Liraels ungeschützten Nacken herabsausen würde. Sie hielt ihr eigenes Schwert in der Faust. Die Chartersymbole brannten wie goldene Sonnen, als Nehima heftig auf die sich nähernde Drohung Freier Magie reagierte. Doch Liraels Schwertarm war durch den Willen ihres Feindes und die schreckliche Macht der Glocke gebannt und nahezu unbeweglich.
Verzweifelt bemühte sie sich, Kraft in den Arm zu senden, jedoch vergebens. Dann versuchte sie, in die Charter zu greifen, um den Nekromanten mit einem Zauber aus silbernen Pfeilen oder rotgoldenem Feuer zu vernichten.
»Auf die Knie!«, befahl der Nekromant erneut, und Lirael kniete nieder. Der kalte Strom griff nach ihrem Leib, nach der Brust, breitete sich immer weiter aus und hieß sie in seiner die Ewigkeit verheißenden
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