Das alte Königreich 02 - Lirael
»Können wir weiter hineingehen?«
»Nein!«, fauchte Lirael. »Ich werde den Dunkelspiegel hier benutzen, und du wirst sofort umkehren! Dies ist der Tod, nicht der Gletscher.«
»Ich weiß.« Die Hündin blickte bettelnd zu Lirael auf. »Aber es ist nur der äußerste Rand des Todes…«
»Marsch! Sofort!«, befahl Lirael und streckte den Arm aus. Die Hündin gab ihr Flehen auf. Mit hängendem Schwanz schlich sie davon. Augenblicke später verschwand sie im Leben.
Lirael öffnete den Spiegel wieder und hielt ihn dicht vor ihr rechtes Auge. »Richte ein Auge auf den Spiegel«, stand in dem Buch, »und blicke mit dem anderen in den Tod, damit dich von dort nichts überraschen kann.«
Guter Rat, aber nicht leicht zu befolgen, dachte Lirael, während sie sich bemühte, sich mit zwei verschiedenen Dingen gleichzeitig zu befassen. Nach einiger Zeit wurde die undurchsichtige Spiegeloberfläche klar. Doch statt sich selbst darin zu sehen, erkannte Lirael, dass sie irgendwie durch den Spiegel hindurchblickte. Nur war dahinter nicht der kalte Fluss des Todes, sondern ein wirbelndes Licht. Erschrocken wurde Lirael klar, das es die Sonne war, die mit unglaublicher Geschwindigkeit über den Himmel wanderte. Wie Lirael jedoch mit einiger Verwunderung feststellte, bewegte der glutrote Feuerball sich rückwärts – von Westen nach Osten.
Erregung stieg in ihr auf, als ihr bewusst wurde, dass dies der Beginn der Magie war. Jetzt musste sie daran denken, was sie Sehen wollte: Sie rief sich das Bild ihrer Mutter vor Augen, jedoch nicht das Bild aus ihren Kindheitserinnerungen, das eine Mischung aus Gefühlen und sanften Formen war, sondern wie sie es von der Kohlezeichnung kannte, die Tante Kirrith ihr vor Jahren geschenkt hatte.
Das Bild ihrer Mutter vor Augen, sprach Lirael nun mit lauter Stimme, in die sie jene Charterzeichen aufnahm, die sie aus dem Buch kannte: Symbole der Macht sowie den Befehl, der den Dunkelspiegel veranlasste, ihr zu zeigen, was sie Sehen wollte.
»Meine Mutter kannte ich kaum.« Liraels Stimme klang laut über das Murmeln des Flusses. »Meinen Vater kannte ich gar nicht. Ich möchte ihn durch den Schleier der Zeit sehen. Zeig ihn mir!«
Der schnelle Rücklauf der Sonne verlangsamte sich bei ihren Worten, und Lirael fühlte sich dichter an das Bild im Spiegel herangezogen, bis die Sonne stillstand, das ganze Bild ausfüllte und Lirael mit ihrem Schein blendete. Dann war sie verschwunden – Dunkelheit hatte das Licht abgelöst.
Langsam schwand diese Dunkelheit, und Lirael sah einen Raum, der den Fluss des Todes überlagerte. Beide Bilder waren irgendwie verschwommen, wie von einem Tränenschleier getrübt. Der Raum war groß – eine Halle offenbar – mit einem hohen, mit bunten Glasscheiben versehenen Fenster an einem Ende. Lirael spürte, dass eine Art Magie dieses Fenster beherrschte, denn die Farben und Muster wechselten, obwohl Lirael nicht deutlich genug sehen konnte, um sie genau zu erkennen.
Eine lange Tafel aus hellem, schimmerndem Holz erstreckte sich über die gesamte Länge der Halle. Zahlreiche silberne Gegenstände befanden sich darauf: Kandelaber mit Bienenwachskerzen, auf denen gelbe Flammen tanzten, Salz- und Pfefferstreuer, Saucieren und Terrinen und vielerlei Zierrat, wie Lirael ihn nie zuvor gesehen hatte. Ein halb tranchierter Gänsebraten lag auf einem Tablett, um das Platten mit Beilagen standen.
Nur zwei Personen befanden sich an der Tafel, je eine am Kopf- und Fußende, so dass Lirael blinzeln musste, um sie besser sehen zu können. Eine, ein Mann, saß am Kopfende in einem Sessel mit hoher Lehne, der schon fast ein Thron war. Trotz seines schlichten weißen Hemdes – und obwohl er keinerlei Schmuck trug – sah man sofort, dass er ein Mann mit Macht und Einfluss war. Lirael runzelte die Stirn und drehte den Dunkelspiegel ein wenig, um zu versuchen, das Bild etwas schärfer zu bekommen.
Es gab Zauber, um Bilder deutlicher zu machen, doch Lirael wollte sie jetzt nicht probieren, aus Angst, das Bild könne dann ganz verschwinden. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit nun auf die andere Person, die sie deutlicher sehen konnte als den Mann.
Es war ihre Mutter, Arielle, Kirriths kleine Schwester. Sie sah wunderschön aus in dem weichen Kerzenschein. Ihr langes blondes Haar fiel wie ein glitzernder Wasserfall über den Rücken ihres eleganten, vorn und hinten tief ausgeschnittenen Gewandes aus eisblauem Stoff mit goldenem Sternenmuster. Dazu trug Arielle eine
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