Das alte Königreich 02 - Lirael
Umarmung willkommen. Die Muskeln an ihrem Hals zuckten und verkrampften sich, als sie gegen den Zwang ankämpfte, den Kopf zu beugen.
Plötzlich machte sie eine Entdeckung: Sie konnte den Kopf so weit neigen, dass ihre Lippen die Panflöte in ihrer erstarrten Linken erreichten. Ohne weiter darüber nachzudenken, beugte sie sich weiter vor, und ihre Lippen berührten eines der silbernen Instrumente – jedoch zu schnell, als dass sie erkennen konnte, welche Flöte nun erklingen würde. Im schlimmsten Fall war es Astarael: Dann würde sie den Nekromanten mit sich in die tieferen Bereiche des Todes reißen.
Lirael blies, so fest sie konnte, um die Glocke des Nekromanten zu übertönen.
Die Flöte war Kibeth. Ihr reiner Klang traf Hedge in dem Moment, als er sein Schwert zum todbringenden Hieb hob. Er konnte sich nicht mehr auf den Füßen halten und wirbelte herum. Sein Schwert sauste hoch über Lirael hinweg. Dann ließ die Flöte ihn wie einen Betrunkenen taumeln, so dass er zum Ersten Tor schwankte.
Doch obwohl Hedge von Kibeth überrascht worden war, kämpften sein Wille und die Glocke Saraneth noch immer darum, Lirael zu bannen, als diese versuchte, ins Leben zurückzufliehen. Ihre Arme und Beine fühlten sich taub und kraftlos an, und der Fluss war wie Treibsand, der sie verschlingen wollte. Verzweifelt stemmte sie sich hoch, griff nach dem Leben, nach ihren Erinnerungen und Hoffnungen, nach allem, was sie liebte.
Schließlich, als die Fessel riss, stürzte Lirael nach vorn in den Sonnenschein und in eine kühle Brise – doch nicht, ehe der Nekromant ihr eine Drohung hinterhergebrüllt hatte, so kalt und beängstigend wie der Fluss des Todes.
»Ich kenne dich! Du kannst dich nicht verstecken! Ich werde dich…«
Seine letzten Worte wurden abgeschnitten, als Lirael wieder gänzlich in ihrem Körper zurück war und ihre Sinne sich auf die Welt der Lebenden einstellten. Wie das Buch sie gewarnt hatte, hüllten Eis und Frost ihren Körper ein.
»Was… was war das?«, winselte die Hündin. Offensichtlich hatte sie gespürt, dass Lirael angegriffen worden war.
»Ein Nekromant«, antwortete Lirael fröstelnd. »Der aus der Vision… die mir die Clayr gezeigt haben… dieser Hedge… er hätte mich… beinahe getötet…«
Die Hündin knurrte tief in der Kehle, und Lirael bemerkte erst jetzt, dass sie inzwischen gewachsen war. Sie reichte ihr bis zu den Schultern und hatte viel größere und schärfere Zähne. »Ich wusste, ich hätte bei dir bleiben sollen, Herrin.«
»Ja, ja«, murmelte Lirael bloß. Sie konnte kaum noch reden und atmete in keuchenden Zügen. Noch immer war sie von Panik erfüllt, obwohl sie wusste, dass der Nekromant ihr nicht hierher folgen konnte – er würde zu seinem eigenen Körper im Leben zurückkehren müssen. Leider hatte Kibeth ihn nicht weit verjagen können; die Flöte war zu klein. Er konnte mühelos wiederkehren und körperlose Tote Geister ins Leben schicken, um Lirael zu verfolgen.
»Er wird jemanden auf mich hetzen! Wir müssen von hier verschwinden!«
Die Hündin knurrte wieder, protestierte jedoch nicht, als Lirael über die kleine felsige Insel stolperte, um so rasch wie möglich an Bord der
Finderin
zu gehen. Sie rannte hinter Lirael her, und jedes Mal, wenn Lirael sich nach der Hündin umdrehte, war diese zwischen ihr und der Gefahr.
Erst ein paar Minuten später, als sie wieder sicher auf dem Wasser des Ratterlins segelten, wurde Lirael von der vollen Wucht des Schocks getroffen. Sie schwitzte und zitterte am ganzen Leib, hielt nur eine Hand leicht um das Ruder.
Finderin
würde auch ohne ihre Hilfe den Kurs halten.
»Ich hätte dem Nekromanten die Kehle durchgebissen«, knurrte die Hündin, nachdem sie mehrere Minuten gewartet hatte, bis Liraels Anfall verebbt war. »Dann hätte er Grund gehabt, sich an meine Zähne zu erinnern!«
»Ich glaube nicht, dass er es überhaupt bemerkt hätte«, entgegnete Lirael schaudernd. »Er schien mehr tot als lebendig zu sein. ›Ich kenne dich‹, hat er gesagt…« Sie legte den Kopf in den Nacken, um mehr vom Sonnenschein einzufangen, und genoss die wohlige Wärme auf ihrem noch immer frostkalten Gesicht. »Wie kann das sein? Wie kann er mich kennen?«
»Freie Magie führt mit der Zeit zum Ende eines jeden Nekromanten«, sagte die Hündin und schrumpfte zu einer weniger gefährlichen und für die Unterhaltung günstigeren Größe. »Die Macht, deren sie sich zu bedienen suchen – die Freie Magie –, verschlingt sie
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