Das alte Königreich 02 - Lirael
hätte. Dann schwang sie zurück und verfehlte ihn knapp, als das Schiff seinen vorherigen Kurs wieder aufnahm.
Doch die paar Sekunden Stillstand waren lebenswichtig gewesen, wie Sam erkannte, als die auf sie abgeschossenen Pfeile nur ein paar Fuß voraus ins Wasser tauchten.
Augenblicke später flatterte der große Silberstern der Clayr vom Mast und glitzerte in der Sonne. Nun konnte es keinen Zweifel mehr geben, wessen Schiff dies war, denn die Flagge war nicht bloß ein Stück Tuch, sondern wie
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selbst voll Chartermagie. Das Sternbanner der Clayr würde sogar in der dunkelsten Nacht leuchten.
»Sie haben zu rudern aufgehört«, meldete die Hündin zufrieden, als das Wachschiff an Geschwindigkeit verlor, weil die Ruder sich ineinander verhakt hatten. Sam entspannte sich und ließ den magischen Pfeilschutz verschwinden, um zu überprüfen, ob er bei seinem schmerzhaften Kontakt mit der Pinne Zähne verloren hatte.
»Aber zwei Schützen werden trotzdem schießen«, fuhr die Hündin fort. Sam stöhnte und beeilte sich, nach den Charterzeichen zu greifen, die er gerade erst losgelassen hatte.
»Ja… nein… die anderen vier überwältigen sie. Der Kommandant ist wie von Sinnen. Er hat sich selbst verraten!«
Sam und Lirael blickten zum Wachschiff, auf dem nun ein Durcheinander kämpfender Gestalten zu sehen war, begleitet von Stimmengewirr, wilden Schreien und dem Klirren von Waffen. Plötzlich schoss inmitten dieses Chaos eine weiße Feuersäule empor – mit so lautem Tosen, dass alle zusammenfuhren. Die Säule stieg zwölf Fuß empor und glitt dann seitwärts über Bord.
Einen Moment lang dachten Sam und Lirael, sie würde erlöschen; dann aber prallte sie vom Wasser hoch wie ein Korken, kam auf die
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zu und verwandelte sich allmählich. Bald war sie keine Feuersäule mehr, sondern ein gigantischer brennender Keiler mit gewaltigen Hauern. Das riesige Biest setzte
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mit großen Sprüngen nach und stieß dabei ein schrilles, scheußliches Quieken hervor.
Sam reagierte als Erster. Er griff nach Liraels Bogen und schoss in rascher Folge vier Pfeile in den Leib des Monsters, das immer näher kam. Alle Pfeile trafen ihr Ziel, doch die einzige Wirkung bestand darin, dass Funken aufsprühten. Die Pfeile schmolzen binnen eines Augenblicks zu flüssigem Metall und Asche.
Sam griff nach einem weiteren Pfeil, als Lirael eine Hand an ihm vorbeistieß und einen Zauber in den Wind rief. Ein goldenes Netz löste sich aus ihren Fingern und breitete sich aus, während es übers Wasser flog. Als der brennende Keiler einen erneuten Satz machte, wickelte das Netz sich in Stricken aus gelbrotem Feuer um seinen Leib und dämpfte sein heißes Leuchten. Keiler und Netz stürzten in die Tiefe. Beide verschwanden im Fluss, und das grauenhafte Quieken verstummte. Als das Wasser des Ratterlins sich über dem versinkenden Flammenmonster schloss, stieg eine gut hundert Fuß hohe Dampffontäne auf. Sobald sie sich aufgelöst hatte, war weder vom Netz noch von der Kreatur Freier Magie etwas zu sehen – nur kleine Stücke von irgendetwas, das wie verwestes Fleisch aussah, an das sich nicht einmal die gierigen Möwen wagten.
»Danke«, sagte Sam, nachdem offensichtlich wurde, dass vom Wachschiff und vom Fluss nichts mehr zu befürchten war. Sam kannte den von Lirael angewandten Netzzauber, hätte aber nie damit gerechnet, dass er gegen eine solch gewaltige und machtvolle Kreatur etwas ausrichten könnte.
»Das war Moggets Vorschlag«, gestand Lirael, die nicht minder überrascht war, dass der Zauber so gewirkt hatte.
»Diese Kreaturen Freier Magie können zwar über fließendes Wasser laufen, werden jedoch vernichtet, wenn sie ganz untertauchen«, erklärte Mogget. »Es genügte also, dieses Ding kurz auf der Stelle treten zu lassen, und schon war es mit ihm vorbei.«
Er blickte die Hündin listig an und fügte hinzu: »Wie du siehst, bist du nicht die Einzige, die sich auf so etwas versteht. Aber jetzt muss ich wirklich ein Nickerchen machen. Ich kann doch hoffen, dass ein Fisch auf mich wartet, wenn ich aufwache?«
Sam nickte, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er einen Fisch fangen sollte. Beinahe hätte er Mogget getätschelt, wie Lirael es oft mit der Hündin tat, doch irgendetwas in den grünen Katzenaugen hielt ihn zurück.
»Tut mir Leid, dass ich nicht eher an die Flagge gedacht habe«, entschuldigte sich Lirael, während sie dahinjagten. Der Zauberwind war nicht mehr ganz so stark, wehte jedoch immer
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