Das alte Königreich 02 - Lirael
Zukunft, den er sich nicht vorzustellen vermochte – wie vieles andere. Zurzeit konnte er nur daran denken, den sicheren Hafen des Hauses zu erreichen.
»Können wir nicht auch in der Nacht segeln?«, erkundigte er sich.
»Ja«, antwortete Lirael. »Wenn die Hündin aufbleibt, um
Finderin
als Ausguck zu helfen.«
»Mach ich«, rief die Hündin. Sie hatte sich nicht von ihrem Platz am Bug gerührt. »Je früher wir dort sind, desto besser. Dieser Wind bringt Verwesungsgestank mit sich, und der Fluss ist viel zu verlassen.«
Sam und Lirael schauten sich um. Sie waren voll und ganz mit der Charterhaut beschäftigt gewesen, so dass sie sich für nichts anderes interessiert hatten.
»Niemand ist uns von Hochbrück gefolgt, und wir haben nur vier aus Süden kommende Schiffe überholt«, erklärte die Hündin. »Das kann für einen Fluss wie den Ratterlin nicht normal sein.«
»Nein«, bestätigte Sam. »Wenn ich früher auf dem Fluss war, habe ich immer Dutzende von Schiffen und Booten gesehen, sogar im Winter. Wir hätten zumindest einigen Holzkähnen begegnen müssen, die nach Norden unterwegs sind.«
»Ich habe den ganzen Tag keine gesehen«, versicherte die Hündin. »Also werden sie irgendwo gehalten haben, um Zuflucht zu suchen. Und die wenigen Schiffe, die ich sah, waren allesamt an Piers und Stegen weit draußen im Fluss oder an Bojen vertäut – so weit wie möglich vom Land entfernt.«
»Also muss es noch mehr Tote oder Kreaturen Freier Magie den ganzen Fluss entlang geben«, meinte Lirael.
»Ich wusste gleich, dass es verkehrt von Mutter und Vater war zu verreisen«, sagte Sam. »Wenn sie geahnt hätten…«
»Wären sie trotzdem nach Ancelstierre gegangen«, unterbrach Mogget ihn gähnend, streckte sich und kostete die Luft mit seiner rosa Zunge. »Wie üblich kommen die Schwierigkeiten aus allen Richtungen zugleich. Einige eilen sogar direkt auf uns zu, denn ich fürchte, die Hündin hat Recht. Der Wind bringt Gestank. Weckt mich, falls etwas Unangenehmes droht.«
Der Kater rollte sich wieder zu einem weißen Knäuel zusammen und schlief weiter.
»Ich frage mich, was Mogget mit ›etwas Unangenehmes‹ meint«, murmelte Sam unruhig, griff nach seinem Schwert, zog es halb aus der Scheide und vergewisserte sich, dass die Charterzeichen, die er dort angebracht hatte, noch vorhanden waren.
Die Hündin schnüffelte wieder. Ihre Nase zitterte; sie hob die Schnauze höher, als der Geruch stärker wurde.
»Freie Magie«, sagte sie schließlich. »Am Westufer.«
»Wo genau?«, erkundigte Lirael sich und beschirmte die Augen mit einer Hand. Gegen die untergehende Sonne war es schwierig, etwas zu erkennen. Nur mit Mühe konnte sie ein Weidengehölz zwischen brachliegenden Feldern, ein paar behelfsmäßige Anlegestege und die halb unter Wasser liegenden Steinwände einer großen Fischfalle ausmachen.
»Ich kann nichts sehen«, erwiderte die Hündin. »Ich kann nur riechen. Irgendwo flussabwärts.«
»Ich kann auch nichts sehen«, warf Sam ein. »Aber wenn die Freie Magie nicht auf dem Fluss ist, brauchen wir nur vorbeizusegeln.«
»Ich kann auch Leute riechen«, meldete die Hündin. »Verängstigte Leute.«
Sam schwieg. Lirael blickte ihn an und sah, dass er sich auf die Lippe biss.
»Könnte es der Nekromant sein?«, fragte Lirael. »Hedge?«
»Das kann ich von hier aus nicht sagen«, erwiderte die Hündin. »Der Geruch von Freier Magie ist sehr stark… es könnte ein Nekromant sein. Vielleicht aber auch ein Stilken oder Hish.«
Lirael schluckte. Sie konnte zwar einen Stilken binden, da sie Nehima zur Hilfe hatte – und Sam, die Hündin und Mogget –, aber sie wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen.
»Ich weiß, dass ich das Buch hätte lesen sollen«, murmelte Sam. Er brauchte nicht zu sagen, welches Buch.
Minutenlang schwiegen sie, während
Finderin
ihren Weg zum Westufer fortsetzte. Die Sonne ging unter; mehr als die Hälfte der roten Scheibe war bereits am Horizont versunken. Die ersten Sterne erschienen.
»Ich denke, wir sollten uns… sollten uns lieber umsehen«, sagte Sam widerstrebend. Er schnallte sich den Schwertgürtel um, machte jedoch keine Anstalten, nach dem Glockenbandelier zu greifen. Lirael blickte es an und wünschte, sie dürfte es an sich nehmen. Doch es gehörte nicht ihr. Sam musste entscheiden, was damit geschehen sollte.
»Wenn wir am nächsten Pier anlegen, werden wir dann nahe ans Ziel herankommen?«, fragte Lirael die Hündin. Das Tier nickte,
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