Das alte Königreich 02 - Lirael
keinen Unterschied bemerkt.«
»Mir persönlich macht es nichts aus«, entgegnete die andere Zweite Assistentin, während sie sorgfältig Leim auf den gerissenen Rücken eines Buches strich. »Es ist eine Abwechslung von der Arbeit, und bei einer größeren Wache ist sie schneller vorbei. Aber es ist mühsam, wenn wir unsere Sicht auf etwas richten sollen, das wir nicht Sehen können. Das sollten die Oberen endlich mal einsehen!«
»So einfach ist das nicht«, rief eine Stellvertreterin, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war und sich auf die beiden Mädchen wie eine riesige weiße Katze auf zwei fette Mäuse stürzte. »Alle möglichen Zukünfte sind miteinander verbunden. Dass man nicht Sehen kann, wo Zukünfte beginnen, ist ein bedeutungsvolles Problem. Und ihr solltet auch wissen, dass man nicht über die Probleme der Wache reden darf!«
Dieser letzte Satz wurde mit einem finsteren Blick über den ganzen Raum hinweg geäußert. Wenngleich Lirael halb hinter einer riesigen Presse verborgen war, hatte sie das Gefühl, dass der Blick ihr galt. Schließlich waren alle anderen im Raum richtige Clayr, die das Recht hatten, an der Neuntagewache teilzunehmen.
Liraels Wangen brannten vor Verlegenheit und Scham, als sie ihre ganze Kraft einsetzte und die großen Bronzegriffe der Schraube drehte, um die Presse fester zu stellen. Lirael nahm sich vor, die Gespräche nicht mehr zu beachten, so interessant sie auch sein mochten, und sich voll auf die Arbeit zu konzentrieren.
Das war der Augenblick, als Lirael beschloss, die schlummernde Magie in ihrem Armband zu erwecken und ihren eigenen Zauber zu benutzen, um das Glühen der zusätzlichen Smaragde zu verbergen.
Sie durfte nicht an der Wache im Observatorium teilnehmen; dagegen konnte sie nichts tun. Aber sie würde stattdessen die Bibliothek erforschen…
7
HINTER DEN TÜREN VON
SONNE UND MOND
Selbst nachdem sie die besonderen Zauber in ihrem Armband erweckt hatte, kam Lirael nicht dazu, die ihr bisher verschlossenen Teile der Großen Bibliothek zu erkunden. Entweder hatte sie zu viel Arbeit oder es waren andere Bibliothekarinnen in der Nähe. Nach den ersten beiden Versuchen, als sie mit wild pochendem Herzen beinahe vor einer verbotenen Tür ertappt worden wäre, beschloss Lirael, ihre Erkundung zu verschieben, bis sich nicht so viele Leute in den Räumen aufhielten oder bis sie sich unauffällig von ihrer Arbeit davonschleichen konnte.
Die erste Gelegenheit dazu ergab sich, nachdem sie das gelbe Wams einer Dritten Assistentin bereits fünf Monate trug. Lirael war im Leseraum und ordnete Bücher. Sie sollten von den Sendlingen zurückgebracht werden, die dicht um sie her standen; der einzig sichtbare Teil dieser vermummten Gestalten waren die geisterhaften Hände mit den Charterzeichen. Es waren primitive Wesen ohne irgendwelche höheren Funktionen, aber sie liebten ihre Arbeit. Lirael mochte sie, weil sie nicht mit ihnen reden musste und sie ihr auch keine Fragen stellten. Sie brauchte lediglich dem richtigen Sendling die richtigen Bücher zu geben, die er dann zu seinem Bibliotheksbereich trug, um sie dort auf den Regalen einzuordnen.
Lirael verstand sich besonders gut darauf, die Sendlinge auseinander zu halten und zu erkennen, welcher von ihnen wohin gehörte. Das war ein Zeit sparendes Talent, denn die gestickten Zeichen an den Kapuzengewändern der Sendlinge fransten bereits aus oder waren unter Staub verborgen und deshalb nicht mehr einzuordnen. Die Sendlinge hatten keine eigenen Namen, nur Beschreibungen ihrer Pflichten; manche trugen allerdings Spitznamen, wie Reb zum Beispiel, der für Reiseberichte von A bis D zuständig war, oder wie Steinchen, der sich um die Geologiesammlung kümmerte.
Lirael gab Reb ein besonders großes, unhandliches, in Leder gebundenes Werk mit einem dreihöckrigen Kamel als Motiv auf der Vorderseite, als die Botin der Wache erschien. Lirael achtete anfangs nicht allzu sehr auf sie, weil sie wusste, dass sie kein Elfenbeinstäbchen bekommen würde. Dann aber bemerkte sie, dass die Botin diesmal an jedem Tisch stehen blieb und zu flüstern anfing, bis hinter ihr aufgeregte Stimmen durcheinander flüsterten. Lirael schob sich verstohlen ihr Haar hinter die Ohren und versuchte zu lauschen. Anfangs war das Gemurmel unverständlich, doch als die Botin näher kam, schnappte Lirael mehrere Male die Worte »eintausend und fünfhundertachtundsechzig« auf. Zuerst wusste sie nichts damit anzufangen, bis ihr klar wurde, das die
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