Das alte Königreich 02 - Lirael
Zweiten Assistentinnen sich kürzlich darüber unterhalten hatten: der Aufruf von 1568 Clayr zur Wache – eine bisher nie da gewesene Konzentrierung auf die Sicht.
Das wird fast jede Bibliothekarin von ihrem Arbeitsplatz wegrufen, überlegte Lirael, und ihr die perfekte Chance für einen heimlichen Ausflug verschaffen. Zum ersten Mal beobachtete sie die Verteilung der Stäbchen voller Aufregung statt mit dem üblichen Weltschmerz und Selbstmitleid. Jetzt wünschte sie sich, jede von ihnen würde tatsächlich zur Wache aufgefordert. Lirael trat sogar zur anderen Seite des Schreibtisches und sah sich unauffällig um, ob auch wirklich alle ihre Stäbchen erhalten hatten.
Offenbar war keine vergessen worden. Lirael fiel das Atmen schwer, als sie wartete, ob nicht doch jemand auf den Gedanken kam, ihr noch rasch irgendeine Arbeit aufzutragen. Allerdings war keine der Bibliothekarinnen, mit denen sie gewöhnlich zusammenarbeitete, hier, auch Imshi nicht. Lirael vermutete, dass die Botin ihr unterwegs begegnet war und ihr das Stäbchen ausgehändigt hatte.
Lirael arbeitete noch schneller, als wäre es ihr völlig egal, was um sie herum geschah. Auch die Sendlinge bewegten sich schneller und nahmen ihre Bücherstapel auf.
Endlich verschwand das letzte Wams durch die Tür. Mehr als fünfzig Bibliothekarinnen waren in weniger als fünf Minuten verschwunden. Lirael lächelte, legte das letzte Buch laut nieder und enttäuschte damit den Sendling, der auf eine große Fuhre wartete.
Zehn Minuten später, um eventuellen Nachzüglern Zeit zu geben, schlich Lirael die Hauptwendeltreppe hinunter. Nach etwa einer halben Meile Abstieg – sie befand sich bereits in den Alten Etagen – blieb sie vor einer Tür stehen, mit der sie es als Erstes versuchen wollte. Auf dem ansonsten kaum bearbeiteten Holz prangte ein helles Sonnenzeichen: eine goldene Scheibe, von der rundum Strahlen ausgingen. Natürlich war da auch die obligatorische rote Kordel mit den Wachssiegeln an beiden Enden, die das Buch-und-Schwert-Symbol der Oberbibliothekarin trugen.
Doch Lirael hatte schon herausgefunden, wie sie diesem Ärgernis beikommen konnte. Sie zog ein Stückchen Draht mit zwei hölzernen Griffen aus ihrer Wamstasche und hielt es sich vor den Mund. Dann sprach sie drei Charterzeichen, ein einfacher Zauber, mit dem man Metall schmolz. Mit dem flüchtig glühenden Draht trennte sie rasch die Siegel ab und verbarg sie und die Kordel in einer Nische des Ganges, fern von der Beleuchtung.
Nun kam der schwierige Teil der Aufgabe. Würde ihr Armband die Tür öffnen, oder bedurfte es dazu auch der letzten beiden Zauber, die Lirael noch nicht herausgefunden hatte?
Wie man es sie gelehrt hatte, hielt sie mit der freien Hand das Handgelenk fest und fächelte ihr Armband vor der Tür. Smaragde blitzten durch den Verhüllungszauber, den sie ihnen auferlegt hatte – und die Tür schwang lautlos auf.
Lirael trat hindurch, woraufhin die Tür sich langsam hinter ihr schloss. Sie fand sich in einem kurzen Korridor wieder; das blendende Licht am anderen Ende verwirrte sie für einen Moment. Dieser Gang konnte doch nicht ins Freie führen…? Aber nein, sie befand sich im Herzen des Berges, Tausende Fuß unter der Oberfläche. Im hellen Licht blinzelnd, ging sie voran, die eine Hand um den Griff ihres Dolches, die andere auf der halb mechanischen Notfallmaus.
Der Korridor führte tatsächlich nicht ins Freie, sondern in einen riesigen Saal, viel größer noch als die Große Halle. Charterzeichen, so hell wie die Sonne, erstrahlten an der Decke, die sich Hunderte von Fuß weit nach oben wölbte. Eine gewaltige Eiche in vollem Sommerlaub breitete ihre Äste schützend über einen ovalen Teich. Überall wuchsen Blumen. Rötliche Blumen. Lirael bückte sich und pflückte eine davon, um festzustellen, ob es nur eine Illusion war. Doch die Blume war echt; es gab kein Anzeichen von Magie. Es war ein rotes Gänseblümchen in voller Blüte.
Lirael roch daran und musste niesen, als ihr der Blütenstaub in die Nase stieg. Erst da wurde ihr bewusst, wie still es hier war. Diese riesengroße Höhle mochte ja ein nahezu vollkommenes Abbild der Wirklichkeit sein, doch die Luft schien stillzustehen. Es gab keine Brise, nicht den geringsten Laut. Es war totenstill. Keine Vögel flatterten, keine Bienen summten um die Blumen. Keine Tiere drängten sich um das Wasser des Teichs. Hier gab es kein Leben außer den Gänseblümchen und dem Baum. Und im Gegensatz zur Sonne
Weitere Kostenlose Bücher