Das alte Königreich 02 - Lirael
Magie – seltsamer, uralter Chartermagie, die Lirael nicht verstand und vor der sie beinahe Angst hatte. Die Zeichen waren Überreste eines archaischen Zaubers, der jetzt aber gebrochen und daher nicht mehr sehr wirksam war. Was immer dieser Zauber einst gewesen sein mochte, nun bestand er nur noch aus Hunderten aufgelöster Zeichen, die sich im Staub verloren.
Doch es war immerhin genug von dem alten Zauber geblieben, dass Lirael sich noch unwohler fühlte. Zeichen des Bindens und der Gefangenschaft trieben umher sowie Zeichen der Abwehr und Warnung. Noch immer versuchte der Zauber, seinen Zweck zu erfüllen.
Lirael erkannte, dass diese Zeichen zwar uralt waren, dass der Zauber deshalb aber nicht geschwunden war. Er war gebrochen worden, wie sie nun erkannte – vor kurzem erst, vor Wochen oder wenigen Monaten.
In der Mitte des Raumes stand ein niedriger Tisch, eine einzelne Platte aus schwarzem, glasigem Stein, der an einen Altar erinnerte. Auch er war mit den Überresten eines mächtigen Zaubers bedeckt. Charterzeichen zeigten sich auf seiner glatten Oberfläche – in immer währendem Bemühen, Verbindung zu einem Hauptcharterzeichen zu bekommen, das sie alle zusammenzog. Doch dieses Zeichen gab es hier nicht mehr. Sieben kleine Plinthen lagen auf dem Tisch aufgereiht. Sie waren aus leuchtendem weißem Bein geschnitzt, wie es schien, und alle waren leer – außer einer. Die dritte von links trug eine Statuette.
Lirael zögerte. Sie konnte nicht genau erkennen, was es war, wollte ihr aber nicht näher kommen. Nicht, ohne mehr über den Zauber zu wissen, der hier gebrochen worden war.
Lange stand sie da, beobachtete die Zeichen und lauschte. Doch nichts änderte sich und es blieb völlig still im Raum.
Einen weiteren Schritt vorwärts könnte ich noch wagen, sagte sich Lirael. Sie wollte nachsehen, was sich auf der dritten Plinthe befand, und sich dann zurückziehen.
Sie trat näher und hob ihr Licht.
Kaum hatte sie den Fuß aufgesetzt, erkannte sie, dass sie einen Fehler begangen hatte. Der Boden fühlte sich plötzlich seltsam nachgiebig an. Dann krachte es erschreckend, und Lirael sank mit beiden Füßen durch die Scheibe aus dunklem Glas, die sie versehentlich für nur ein weiteres Stück des Bodens gehalten hatte.
Lirael stürzte nach vorn und konnte gerade noch ihren Dolch festhalten. Ihre Linke prallte auf den Tisch und umklammerte instinktiv die Statuette. Ihre Knie schlugen auf, wo Glas und Stein sich trafen, und ein grauenvoller Schmerz durchzuckte sie. Sie hatte sich mit dem Glas in die Füße geschnitten.
Zögernd blickte sie hinunter und sah noch Schlimmeres als gebrochenes Glas und Schnittwunden an den Füßen – etwas, das sie trotz der Schmerzen und der Angst vor weiteren Verletzungen dazu brachte, sich mit aller Kraft wegzustemmen.
Das Glas war der Deckel einer länglichen, sarggleichen Grube gewesen, und in dieser Grube lag etwas, das auf den ersten Blick wie eine schlafende nackte Frau aussah. Im nächsten Augenblick erkannte Lirael voller Entsetzen, dass die Unterarme dieses grässlichen Etwas so lang wie die Beine waren; sie waren nach hinten abgewinkelt, und an den Enden befanden sich gewaltige Klauen wie die einer Gottesanbeterin. Die Kreatur öffnete die Augen, die aus silbernem Feuer zu bestehen schienen, das heller und schrecklicher war als alles, was Lirael je gesehen hatte.
Aber noch schlimmer war der Gestank. Es war der verräterische metallische Geruch von Freier Magie, der einen säuerlichen Geschmack in Liraels Mund hinterließ und ihr den Magen umdrehte.
Sowohl die Kreatur als auch Lirael bewegten sich gleichzeitig. Lirael warf sich rückwärts zum Korridor, als das Ding plötzlich zuschlug. Die schrecklichen langen Klauen verfehlten Lirael nur knapp. Das Ungeheuer stieß einen verärgerten, ganz und gar unmenschlichen Schrei aus, der Lirael trotz der Schnittwunden an den Füßen schneller laufen ließ als je zuvor in ihrem Leben.
Ehe der Schrei verstummte, stürmte Lirael schon durch die Gittertür. Sie hatte vor Schreck den Atem angehalten, so dass sie leichter durch den mit der mörderischen Mondsichel bewehrten Türflügel kam. Als sie hindurch war, drehte sie sich um und fächelte ihr Armband. »Schließen, schließen!«, schrie sie dabei.
Doch die Tür schloss sich nicht – und plötzlich war das Ungeheuer da und streckte ein Bein und einen der grässlichen Arme hindurch. Einen Augenblick hoffte Lirael, es würde nicht an den scharfen Mondspitzen
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