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Das alte Königreich 02 - Lirael

Titel: Das alte Königreich 02 - Lirael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Garth Nix
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vorbeikommen, doch das Wesen veränderte sich, wurde plötzlich dünner und größer. Sein Körper war so formbar wie weicher Lehm. Seine Silberaugen funkelten und es öffnete ein Maul voll Zähnen mit Silberspitzen und leckte mit seiner grauen, gelb gestreiften Zunge über die Lippen.
    So gebannt Lirael von dem grässlichen Anblick auch war – sie wusste, dass ihr Leben in höchster Gefahr schwebte. Sie vergaß die Notfallmaus. Sie vergaß, dass sie dem Teich und der Eiche fernbleiben wollte. Sie rannte geradewegs zwischen den Blumen hindurch, so dass die Blütenblätter wie eine Wolke um sie aufstoben.
    Immer weiter rannte sie in ihrer panischen Angst, dass eine Klauenhand sie plötzlich zu Boden reißen würde. Auch am äußeren Korridor wurde sie nicht langsamer; sie kam erst zum Stehen, als sie mit Wucht gegen die Tür prallte. Dort fächelte sie mit ihrem Armreif und quetschte sich durch den Spalt, ehe die Tür sich richtig öffnen konnte. Sämtliche Knöpfe ihres Wamses wurden dabei abgerissen.
    Auf der anderen Seite angekommen, fächelte sie erneut mit ihrem Armband und beobachtete die offene Tür voller Angst – wie ein Lamm einen sich nähernden Wolf.
    Dann hielt die Tür plötzlich für einen Augenblick inne, bevor sie sich langsam wieder zu schließen begann. Lirael seufzte und fiel auf die Knie. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Kurz schloss sie die Augen – und vernahm ein Geräusch, das nicht von der sich schließenden Tür kam.
    Sie riss die Augen auf und sah einen geschwungenen Haken, so lang wie ihre Hand, wie von einem Rieseninsekt. Der Haken schob sich durch den nur noch fingerbreiten Türspalt. Dann folgte ein zweiter, zog und zerrte, und die Tür begann sich wieder zu öffnen.
    Lirael blies in ihre Pfeife. Das durchdringende Trillern hallte die Wendeltreppe hinauf und hinunter. Doch da war niemand, der das Geräusch hätte hören können. Und als Liraels Hand zu der Maustasche langte, betastete sie dort eine seltsame Statuette aus weichem Stein statt des vertrauten Silberkörpers der Maus.
    Die Tür bebte und der Spalt wurde breiter. Das Ungeheuer war stärker als der Zauber, der die Tür geschlossen halten sollte. Entsetzen überkam Lirael. Sie wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Verzweifelt blickte sie den Korridor hinauf und hinunter, als wartete sie auf unvorhergesehene Hilfe.
    Doch es gab keine. Liraels einziger Gedanke war, dass die albtraumhafte Kreatur auf gar keinen Fall auf die Haupttreppe gelangen durfte. Lirael musste an die mahnenden Worte der Bibliothekarinnen über Selbstaufopferung im Dienste der Gemeinschaft denken, und ihr fiel auch wieder die Flucht vor einigen Monaten ein, als sie mit Selbstmordabsichten die Sternenberg-Treppe hinaufgeeilt war. Jetzt, da der Tod ihr nahe war, erkannte Lirael, wie sehr sie am Leben hing.
    Trotzdem wusste sie, was getan werden musste. Sie richtete sich auf und griff in die Charter. Aus dem endlosen Fließen zog sie sämtliche ihr bekannten Zeichen für Feuer und Vernichtung, Blockieren und Verschließen, Zerschmettern und Zerreißen. Sie fluteten heller und blendender als das Licht der Sonne in ihr Gedächtnis – und so stark, dass es schwierig war, sie zu einem einzigen Zauber zu flechten. Doch irgendwie gelang es ihr, die Zauber nach ihrem Wunsch zu ordnen und mit einem Meisterzeichen zu verbinden, einem Zeichen großer Macht, das Lirael nie zuvor anzuwenden gewagt hatte.
    Dann nahm sie all ihren Mut zusammen, berührte die Tür mit einer Hand, die Hakenklaue des Ungeheuers mit der anderen, und sprach das Meistercharterzeichen, um den Zauber zu wirken.

     

8
    DIE FÜNFTE HINTERTREPPE
     
    Während sie den Zauber rief, strömte Hitze durch Liraels Kehle. Weißes Feuer schoss durch ihre rechte Hand und fuhr in das Ungeheuer, und eine gewaltige Kraft, die aus ihrer Linken strömte, schmetterte die Tür zu. Lirael wurde mit solcher Wucht nach hinten geschleudert, dass sie sich mehrere Male überschlug, bis ihr Kopf schmerzhaft auf dem Steinboden aufschlug, so dass sie die Besinnung verlor.
    Als sie zu sich kam, wusste sie nicht, wo sie war. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte ein glühender Draht ihren Schädel durchbohrt. Sie spürte eine klebrige Nässe, und ihr Hals schmerzte, als hätte sie sich eine schlimme Erkältung geholt. Einen Moment glaubte Lirael, sie läge krank im Bett und würde bald Tante Kirrith oder eines der Mädchen sehen, das sich mit einem Fläschchen Kräutermedizin über sie beugte.

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