Das alte Königreich 02 - Lirael
im Zally-Brunnen schöpfte und auf Umwegen endlich die Fünfte Hintertreppe erreichte. Es war eine schmale, selten benutzte Wendeltreppe, welche die Bibliothek lediglich mit der Westseite der Halle der Kinder verband.
Müde stieg Lirael die ersten sechs Stufen hinauf, bis dorthin, wo die Treppe sich nach innen zu drehen begann. Dort warf sie das Glas hinunter und zuckte zusammen, als es zerbrach. Dann überlegte sie, wo sie sich hinlegen sollte, damit es so aussah, als wäre sie tatsächlich die Treppe hinuntergefallen. Sie setzte sich, um in Ruhe darüber nachzudenken. Doch kaum saß sie, legte sie erschöpft den Kopf auf den Arm, den sie auf der Stufe darüber ausgestreckt hatte.
Ihr war klar, dass sie sich als Opfer eines Sturzes auf den unteren Absatz legen sollte, um glaubhaft zu erscheinen, doch das war jetzt alles zu schwer für sie. Die Kraft, die sie bisher angetrieben hatte, war verschwunden. Sie konnte nicht einmal mehr aufstehen. Es war viel leichter zu schlafen, sich einem angenehmen Schlummer hinzugeben, in dem nichts sie quälen konnte…
Lirael erwachte, als eine Stimme eindringlich ihren Namen rief und zwei Finger den Pulsschlag an ihrem Hals prüften.
»Lirael! Sag was! Kannst du reden?«
»Ja«, wisperte Lirael. Ihre Stimme war noch sehr schwach und merkwürdig rau. Sie war verwirrt. Sie erinnerte sich als Letztes daran, auf den Stufen gesessen zu haben, doch jetzt lag sie auf dem Treppenabsatz und sah tatsächlich wie das Opfer eines Sturzes aus. Sie musste die Stufen hinuntergerutscht sein, nachdem sie das Bewusstsein verloren hatte.
Eine Bibliothekarin ersten Grades in blauem Wams beugte sich über sie und blickte ihr eindringlich ins Gesicht. Lirael blinzelte und fragte sich, warum diese fremde Person die Hand vor ihren Augen hin und her schwenkte. Aber es war gar keine Fremde. Es war Amerane, mit der sie im vergangenen Monat ein paar Tage zusammengearbeitet hatte.
»Was ist passiert?«, fragte Amerane besorgt. »Hast du dir etwas gebrochen?«
»Ich bin mit dem Kopf aufgeschlagen«, flüsterte Lirael und spürte, wie ihr die Tränen kamen. Zuvor hatte sie nicht geweint, jetzt aber konnte sie nicht mehr damit aufhören. Sie begann am ganzen Leib zu beben, sosehr sie sich auch dagegen wehrte.
»Fühlt sich irgendwas gebrochen an?«, fragte Amerane noch einmal. »Hast du sonst noch Schmerzen?«
»N-nein«, schluchzte Lirael. »Es ist nichts gebrochen.«
Amerane schien Lirael nicht zu glauben, denn sie betastete behutsam die Arme und Beine des Mädchens und drückte sanft auf dessen Finger und Füße. Da Lirael nicht aufschrie, kein Knochen gebrochen zu sein schien und auch keine Schwellungen zu sehen waren, half Amerane ihr aufzustehen.
»Komm mit«, sagte sie gütig. »Ich bringe dich zur Krankenstation.«
»Danke«, flüsterte Lirael und schlang einen Arm um Ameranes Schultern. Während diese sie mühsam schleppte, umklammerte Lirael mit der anderen Hand das kleine steinerne Hündchen und spürte plötzlich ein unerklärliches, aber äußerst angenehmes Gefühl der Ruhe und des inneren Friedens.
9
KREATUREN VON NAGY
Anfangs glaubte Lirael, binnen eines Tages von der Krankenstation entlassen zu werden. Doch selbst drei Tage nach ihrem »Sturz« konnte sie noch kaum sprechen, hatte keine Energie, ja, sie wollte nicht einmal aufstehen. Während der Schmerz in Kopf und Hals nachließ, wurde die Angst in ihr immer größer und beraubte sie ihrer Kraft – die Angst vor dem silberäugigen, krallenbewehrten Ungeheuer, das ihr zwischen den roten Gänseblümchen auflauerte. Die Angst, dass man ihre unerlaubten Handlungen herausfinden und sie die Stellung verlieren würde. Die Angst vor der Angst als solcher. Es war ein Teufelskreis, der ihr jeden Mut nahm und das bisschen Schlaf, das sie fand, mit Albträumen füllte.
Am Morgen des vierten Tages knirschte die Oberheilerin mit den Zähnen und runzelte die Stirn, da der Zustand ihrer Patientin sich kaum gebessert hatte. Sie rief eine andere Heilerin herbei, die Lirael untersuchte. Das Mädchen ließ alles geduldig über sich ergehen. Schließlich beschlossen beide Heilerinnen, Filris von ihrem Traumgemach herunterzubitten.
Als Lirael das hörte, zuckte sie heftig zusammen. Filris war nicht nur die älteste Heilerin, sondern die älteste noch lebende Clayr. Lirael hatte noch nie eine wirklich alte Clayr gesehen, da diese sich in ihr eigenes Traumgemach zurückzogen, wenn sie ein hohes Alter erreichten. Sie brauchten diese
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