Das alte Königreich 02 - Lirael
Räumlichkeiten, weil sich die Sicht mit zunehmendem Alter in kleineren, aber häufigeren Visionen äußerte, die sich nicht kontrollieren ließen, nicht einmal durch die gewaltigen Eismassen und die Neuntagewache. Es war nicht ungewöhnlich, dass sehr alte Clayr nur diese zersplitterten Zukunftsvisionen sahen, die sie in keinen Zusammenhang mit der Gegenwart bringen konnten.
Doch als Filris eine Stunde später erschien, kam sie allein und schien sich auch außerhalb ihrer Welt durchaus zurechtzufinden. Lirael beäugte sie misstrauisch und sah eine kleine, schmächtige Frau, deren Haar so weiß war wie der Schnee auf dem Sternenberg und deren Haut aussah wie altes Pergament.
Sie untersuchte Lirael wortlos von Kopf bis Fuß, wobei ihre papiertrockenen Hände sie sanft in die erforderliche Stellung brachten. Schließlich blickte sie lange in Liraels Hals und ließ eine durch Chartermagie geschaffene kleine Lichtblase einen Zoll vor Liraels Kiefern schweben. Als Filris fertig war, schickte sie die Heilerin aus der Station und setzte sich neben Liraels Bett. Es war ganz still, denn die übrigen sieben Betten der Station waren unbelegt.
Lirael gab einen Laut von sich, der halb Räuspern, halb Schluchzen war. Sie strich ihr Haar aus dem Gesicht, blickte Filris nervös an und verfing sich in dem Blick ihrer blassblauen Augen.
»Du bist also Lirael«, sagte Filris. »Die Heilerin berichtete mir, dass du die Treppe hinuntergefallen bist. Aber ich glaube nicht, dass sich alles so zugetragen hat, wie du erzählt hast. Um ehrlich zu sein, ich bin überrascht, dass du noch lebst. Ich kenne keine andere Clayr deines Alters – und nur wenige ältere –, die ein solches Zeichen sprechen könnten, ohne davon vernichtet zu werden.«
»Wie könnt Ihr das erkennen?«, krächzte Lirael.
»Erfahrung«, antwortete Filris trocken. »Ich habe mehr als hundert Jahre in dieser Krankenstation gearbeitet. Du bist nicht die erste Clayr, die an den Folgen ihres allzu großen Ehrgeizes in Sachen Magie leiden musste. Außerdem bin ich neugierig, wie du dir gleichzeitig diese anderen Verletzungen zugezogen hast, vor allem, da das Glas, dessen Splitter in deinen Füßen steckten, reines Kristall ist und bestimmt nicht von einem der Gläser des Zally-Brunnens stammt.«
Lirael schluckte schwer, sagte aber nichts. Das Schweigen setzte wieder ein. Filris wartete geduldig.
»Ich werde meine Stellung verlieren«, flüsterte Lirael schließlich. »Man wird mich in die Halle der Kinder zurückschicken.«
»Nein.« Filris nahm ihre Hand. »Niemand wird erfahren, was wir hier sprechen.«
»Ich habe mich sehr dumm angestellt«, sagte Lirael. »Ich habe etwas befreit, etwas Gefährliches… gefährlich für jeden. Für alle Clayr.«
»Pah!«, schnaubte Filris. »So schlimm kann es nicht sein, wenn es in den vergangenen vier Tagen nichts Böses bewirkt hat. Außerdem können ›alle Clayr‹ sich sehr wohl um ihr kollektives Selbst kümmern. Um dich mache ich mir Sorgen. Du lässt dich von Furcht beherrschen, und das verhindert deine Genesung. So, und jetzt erzähl mir alles von Anfang an.«
»Ihr werdet es nicht Kirrith sagen? Oder meiner Vorgesetzten?«, fragte Lirael verzweifelt. Wenn Filris auch nur ein Wort darüber sagte, das wusste Lirael, würde man sie aus der Bibliothek werfen, und dann hatte sie nichts mehr. Gar nichts.
»Wenn du Vancelle meinst – nein, ich sage ihr nichts«, erwiderte Filris und tätschelte Liraels Hand. »Von mir erfährt niemand etwas. Vor allem, da ich mich schon vor langem um dich hätte kümmern sollen. Aber ich hatte keine Ahnung, dass du mehr als ein Kind bist, Lirael. Erzähl jetzt. Was ist geschehen?«
Langsam und so leise, dass Filris sich tiefer über sie beugen musste, schüttete Lirael der alten Frau ihr Herz aus. Sie erzählte von ihrem Geburtstag und dass sie zur Terrasse hinaufgestiegen war, dass sie Sanar und Ryelle kennen gelernt hatte und wie diese ihr zur Anstellung in der Bibliothek verholfen hatten. Sie gestand Filris, dass sie die Zauber in ihrem Armband geweckt hatte, und berichtete von der Sonnen- und der Mondtür. Ihre Stimme wurde noch leiser, als sie von dem Grauen im Sarg mit dem Glasdeckel berichtete. Sie erzählte, wie sie sich verzweifelt die Wendeltreppe hinaufgeplagt und ihren Sturz vorgetäuscht hatte. Und sie erzählte Filris auch von der seltsamen Hündchenstatuette.
Sie sprachen länger als eine Stunde. Filris’ Fragen brachten Liraels Ängste, Hoffnungen und Träume ans Licht.
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