Das alte Königreich 02 - Lirael
Hish. Bei der Gelegenheit kannst du mich gleich am Hals kraulen.«
Lirael zögerte, doch die Hündin glich tatsächlich den gutmütigen Hunden, die sie gekrault hatte, wenn diese mit ihren Herrchen ins Refektorium gekommen waren. Wie von selbst streckte sie die Hand nach der Hündin aus. Sie spürte warme Hundehaut und weiches, kurzes Haar, als sie das Tier vom Rücken aufwärts kraulte. Die Hündin erschauerte und murmelte: »Noch ein bisschen höher… nach links. Nicht ganz so weit. Aaah!«
Dann berührte Lirael das Halsband, nur mit zwei Fingern – und wurde aus der augenblicklichen Realität geschleudert. Alles, was sie sehen, hören und fühlen konnte, waren Charterzeichen rings um sie her, als wäre sie in die Charter hineingefallen. Unter ihrer Hand befand sich kein Lederband mehr, kein Hund. Auch ihr Arbeitszimmer war verschwunden. Es gab nichts außer der Charter…
Plötzlich war Lirael wieder in sich selbst. Sie schwankte und ihr war leicht übel. Mit beiden Händen kraulte sie die Hündin unter dem Kinn, ohne dass sie wusste, wie die Hände dort hingekommen waren.
»Dein Halsband«, sagte Lirael, als sie ihr inneres Gleichgewicht halbwegs wiedergefunden hatte, »dein Halsband ist wie ein Charterstein – ein Weg in die Charter. Ich habe aber Freie Magie gesehen, als du erschaffen wurdest. Sie muss da irgendwo sein… oder nicht?«
Sie verstummte, doch die Hündin regte sich nicht, bis Lirael zu kraulen aufhörte. Da erst drehte sie den Kopf, sprang auf und fuhr Lirael mit der Zunge über den Mund.
»Du brauchst einen Freund«, sagte die Hündin, als Lirael sich schüttelte und den Geifer mit beiden Ärmeln abwischte. »Und ich bin gekommen. Genügt das nicht für den Anfang? Du weißt, dass mein Halsband von der Charter ist. Was immer ich sonst sein mag – die Charter würde mich bändigen, selbst wenn ich dir etwas antun wollte. Außerdem gibt es den Stilken, mit dem wir uns befassen müssen, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Lirael. Impulsiv beugte sie sich hinunter, schlang die Arme um den Hals der Hündin und spürte deren Wärme wie auch das sanfte Summen der Charterzeichen in ihrem Halsband durch den dünnen Stoff ihrer Bluse.
Die Fragwürdige Hündin ließ es eine Minute geduldig über sich ergehen; dann stieß sie eine Art Niesen aus und trat von einer Pfote auf die andere. Lirael wusste von den Hunden der Besucher, was das bedeutete, und ließ sie los.
»Wir müssen den Stilken so schnell wie möglich bezwingen«, erklärte die Hündin, »ehe er freikommt und noch schlimmere Ungeheuer freilässt oder ihnen von außen Zutritt verschafft.
Ich nehme an, du hast dir das Nötige beschafft, den Stilken zu binden.«
»Nein«, sagte Lirael. »Nicht, wenn du damit die Dinge meinst, die Nagy erwähnt: einen Ebereschenstab oder ein mit Charterzeichen versehenes Schwert…«
»Ja, ja«, unterbrach die Hündin sie ungeduldig, bevor Lirael die ganze Liste aufzählen konnte. »Warum hast du weder das eine noch das andere?«
»So etwas liegt nicht einfach herum«, verteidigte sich Lirael. »Ich dachte, ich könnte mir ein ganz normales Schwert besorgen und die Charterzeichen…«
»Das dauert zu lange. Monate!« Die Hündin ging unruhig auf und ab. »Der Stilken wird deinen Türzauber schon in wenigen Tagen durchbrechen.«
»Was?«, rief Lirael. Dann fuhr sie etwas ruhiger fort: »Du meinst, er wird entkommen?«
»Schon bald«, bestätigte die Hündin. »Ich dachte, das wüsstest du. Freie Magie kann Charterzeichen ebenso zerfressen wie Fleisch.«
Lirael schüttelte den Kopf. Ihre Kehle hatte sich noch immer nicht ganz von dem Meisterzeichen erholt, dessen sie sich das letzte Mal bedient hatte. Es wäre zu riskant, es noch einmal zu benutzen, ehe sie sich völlig erholt hatte. Nicht ohne die zusätzliche Kraft eines Schwertes mit Charterzeichen. Dieser Gedanke führte sie zurück zu ihrem ursprünglichen Problem.
»Dann musst du dir ein Schwert ausleihen«, riet ihr die Hündin, die Lirael ernst ansah. »Ich glaube nicht, dass jemand hier die richtige Art von Stab besitzt. Clayr haben so gut wie nichts mit Ebereschen zu tun.«
»Ebenso wenig wie mit Schwertern, die mit Bannzauber behaftet sind«, gab Lirael zu bedenken und ließ sich in ihren harten Sessel sinken. »Warum kann ich nicht eine ganz gewöhnliche Clayr sein? Hätte ich die Sicht bekommen, würde ich nicht in der Bibliothek umherstreifen und mich durch meine Neugier in Schwierigkeiten bringen. Falls ich die Sicht doch noch
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