Das alte Königreich 02 - Lirael
bewegte dabei kaum den Mund. Er war der Ersatz für Fred, den fest angestellten Fahrer der Schule, der sich am Tag zuvor bei einer heftigen Auseinandersetzung während eines Dart-Wettbewerbs den Arm gebrochen hatte. »High Road ist bei Beardsley überflutet. Hab es von einem Postboten in der Kneipe gehört.«
»Na gut.« Cochranes Stirnrunzeln verriet, wie widerwillig er sein Einverständnis gegeben hatte. »Es ist trotzdem sehr merkwürdig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so heftig geregnet hat. Sind Sie sicher, dass Sie das Hochwasser umfahren können?«
»Ja, Guv’nor«, bestätigte der Mann, und ein schmales Lächeln huschte über sein verschlagenes Rattengesicht. »Beckton Bridge.«
»Nie davon gehört«, brummte Cochrane. »Aber Sie werden sich schon auskennen.«
Die Schüler achteten kaum auf dieses Gespräch oder die Straße. Sie waren schon um vier Uhr früh aufgestanden, um rechtzeitig nach Bain zu gelangen, und hatten fast den ganzen Tag Cricket gespielt. Die meisten nützten die lange Fahrt für ein Nickerchen. Sam hielt die Aufregung über den Sieg wach, der vor allem auf sein Konto ging. Durch die vom Regen nassen Scheiben betrachtete er die Gegend. Sie fuhren an Bauernhäusern vorbei, hinter deren Fenstern elektrisches Licht brannte. Telegrafenmasten säumten die Straßen, und in einer kleinen Ortschaft sah er ein rotes Telefonhäuschen.
Das alles würde er bald hinter sich lassen. Moderne Technologie, wie Telefone und Elektrizität, funktionierte auf der anderen Seite der Mauer nicht.
Zehn Minuten später kamen sie an etwas anderem vorbei, das hinter der Mauer ebenfalls undenkbar war: ein riesiges Feld mit Hunderten von Zelten, zwischen denen tropfende Wäsche hing. Der Bus wurde beim Vorbeifahren langsamer, so dass Sameth sehen konnte, dass sich an den Eingängen der meisten Zelte Frauen und Kinder zusammengeschart hatten und bedrückt in den Regen starrten. Fast alle trugen blaue Kopftücher oder Hüte, die sie als Flüchtlinge aus dem Südland auswiesen. Mehr als zehntausend von ihnen hatten vorübergehende Zuflucht in – wie die
Corvere Times
es nannte – »der nördlichsten Region des Landes gefunden«, was eindeutig nahe der Mauer bedeutete.
Dies hier musste eines der Flüchtlingslager sein, die in den vergangenen drei Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, wurde Sameth bewusst, als er bemerkte, dass das Lager mit einer dreifachen Barriere aus Drahtverhau umgeben war und dass sich unweit des Tores mehrere Polizisten befanden, denen wahre Sturzbäche von den Helmen und den dunkelblauen Regenmänteln rannen.
Die Südlinge, wie man sie hier nannte, flohen vor einem Krieg zwischen vier Staaten jenseits der Sundersee im fernen Süden. Der Krieg hatte vor drei Jahren mit einer scheinbar kleinen Rebellion in der Autarchie von Iskeria begonnen. Aus der Rebellion war ein Bürgerkrieg geworden, der auf die benachbarten Länder Kalarime, Iznenia und Korrovia übergegriffen hatte. Es gab zumindest sechs gegeneinander kämpfende Fraktionen, wie Sameth wusste, angefangen mit den Streitkräften des iskerianischen Autarchen und den ursprünglichen anarchistischen Rebellen bis hin zu den von Kalarime unterstützten Traditionalisten und den korrovianischen Imperialisten.
Traditionsgemäß mischte Ancelstierre sich nicht in Kriege auf dem Südkontinent ein. Es verließ sich darauf, dass die im Süden stationierte Marine und das Fliegercorps dafür sorgten, dass sich solche Auseinandersetzungen auf die andere Seite der Sundersee beschränkten. Doch nun, da der Krieg sich fast auf den ganzen Kontinent ausgebreitet hatte, war Ancelstierre der einzige sichere Zufluchtsort für Zivilisten.
Deshalb hatten diese Leute sich aus ihrer vom Krieg verheerten Heimat auf den beschwerlichen Weg nach Ancelstierre gemacht. Viele wurden auf See oder in den größeren Häfen zur Umkehr gezwungen. Doch für jedes große Flüchtlingsschiff, das zurückgebracht wurde, gelang es kleineren Lastkähnen und Schaluppen, irgendwo an der ancelstierrischen Küste anzulegen, und zwei-, dreihundert Flüchtlinge, die wie Sardinen zusammengepfercht gewesen waren, konnten sich an Land retten.
Viele jedoch ertranken oder verhungerten, was die anderen allerdings nicht entmutigte.
Schließlich wurden sie zusammengetrieben und in behelfsmäßigen Lagern untergebracht. Theoretisch waren sie berechtigt, Bürger des Commonwealth von Ancelstierre zu werden, doch in der Praxis erhielten nur jene die ersehnte
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