Das alte Königreich 02 - Lirael
solch ferner Zukünfte. Oder möglicher Zukünfte, wie man es hier nannte, denn die Zukunft war offenbar wie ein sehr verzweigter, verästelter Wasserlauf.
Ein großer Teil der Ausbildung der Clayr, zumindest soweit Lirael wusste, beschäftigte sich mit der Frage, welche mögliche Zukunft die wahrscheinlichste war – oder die wünschenswerteste.
Doch da war ein Haken bei der Vorstellung, dass Clayr einer längst vergangenen Zeit Lirael Gesehen hatten, da die Clayr der Gegenwart Liraels Zukunft ja gar nicht Sehen konnten und auch nie dazu im Stande gewesen waren. Sanar und Ryelle hatten ihr erzählt, dass da nie etwas gewesen war, wenn die Neuntagewache versucht hatte, Liraels Zukunft zu Sehen. Ihre Zukunft war so rätselhaft wie ihre Gegenwart. Keine Clayr hatte Lirael zuvor in der Bibliothek oder sonst wo Gesehen – was bedeutete, dass sie tatsächlich anders als die anderen war. Lirael konnte nicht Sehen, aber auch nicht Gesehen werden.
Wenn selbst die Neuntagewache mich nicht zu Sehen vermag, überlegte Lirael, wie könnten die Clayr darin vor tausend Jahren gewusst haben, dass ich eines Tages hier vor dieser Tür stehe? Und weshalb haben sie nicht nur diese Tür errichtet, sondern auch die Treppe? Lirael schüttelte den Kopf. Es war viel wahrscheinlicher, dass dieser Pfad nach einer ihrer Ahnherrinnen benannt war, einer viel früheren Lirael.
Dieser Gedanke verlieh ihr den Mut, die Tür zu öffnen. Sie beugte sich vor und drückte mit beiden Händen auf den kalten Stein. Auch in dieser Tür floss Chartermagie, doch sie strömte diesmal nicht in Lirael hinein, sondern pulsierte nur sanft gegen ihre Haut. Diese Magie war wie ein alter Hund am Feuer, der es genoss, sich streicheln zu lassen, und wusste, dass er seine Freude nicht unbedingt zeigen musste.
Die Tür öffnete sich langsam, widersetzte sich dem Druck mit einem leisen Scharren von Stein auf Stein. Kältere Luft schlug Lirael von der anderen Seite entgegen und zerrte in ihrem Haar, dass die Charterlichter hüpften. Ein modriger Geruch stieg ihr in die Nase, und das eigenartige, drückende Gefühl, das ihr bereits auf der Treppe begegnet war, wurde stärker; es war wie das leichte Pochen und Bohren beginnenden Zahnwehs, das größere Schmerzen ankündigt.
Hinter der Tür lag ein riesiger Raum, der sich schier endlos nach oben und zu allen Seiten erstreckte, weit über den Lichtkreis hinaus. Eine Höhle, die im Dunkeln unendlich erschien.
Lirael trat ein und spähte in die Dunkelheit, bis ihre Augen sich allmählich an die Düsternis gewöhnten. Seltsame Lumineszenzen, die nicht von Chartermagie-Lichtern stammten, leuchteten da und dort; manche befanden sich so hoch, dass es aussah wie ein ferner Sternennebel in einer klaren Nacht. Während Lirael nach oben blickte, wo hoch über ihr der Gipfel des Sternenbergs aufragte, wurde ihr bewusst, dass sie sich fast am Grund einer tiefen Erdspalte befanden. Sie stand auf einem breiten Sims; die Erdspalte führte daran vorbei in noch tiefere Dunkelheit, vielleicht gar bis zur Wurzel der Welt. Bei diesem Anblick durchzuckte Lirael eine plötzliche Erkenntnis – sie wusste von nur einem solchen schmalen und tiefen Abgrund. Viel weiter oben wurde er von allseits geschlossenen Gängen überbrückt. Lirael hatte diesen Abgrund beinahe unwissentlich viele Male überquert, doch nie seine schier unvorstellbare Tiefe gesehen.
»Ich kenne diesen Ort«, sagte sie mit leiser, in diesem riesigen Raum allerdings dennoch widerhallender Stimme. »Wir befinden uns am Grund der Kluft.« Zögernd fügte sie hinzu: »Die Begräbnisstätte der Clayr.«
Die Fragwürdige Hündin nickte, würdigte sie jedoch keiner Antwort.
»Du hast es gewusst, nicht wahr?«, fuhr Lirael fort und blickte immer noch nach oben. Sie konnte sie nicht sehen, wusste jedoch, dass der obere Bereich der Kluft von kleinen Höhlen durchzogen war, von denen jede die sterblichen Überreste einer vor Jahren, vielleicht auch Jahrhunderten verschiedenen Clayr enthielt. Generationen von Toten hatten in diesem senkrecht angelegten Friedhof ihre letzte Ruhestätte gefunden. Auf gespenstische Weise konnte sie die Gräber fühlen, oder die Toten darin – oder irgendetwas.
Liraels Mutter ruhte nicht hier, denn sie war allein in einem fremden Land gestorben, fern der Clayr – zu weit fort, als dass ihre Leiche in diese Nekropole im Innern der Erde hätte gebracht werden können. Doch Filris lag hier und viele andere, die Lirael gekannt hatte.
»Es
ist
eine
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