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Das alte Königreich 02 - Lirael

Titel: Das alte Königreich 02 - Lirael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Garth Nix
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standen dicht zusammen und wechselten nur den Platz, um das Gewicht zu verlagern, wenn die Barke zu sehr schaukelte.
    Hier waren Sams Tanten und seine Großmutter vor langer Zeit vom Tod ereilt worden. Sie hatten auf einer alten, vergoldeten Barke gestanden – vielleicht sogar auf dieser hier –, völlig ahnungslos, bis sie von Kerrigor überrascht worden waren. Er hatte ihnen die Kehle aufgeschlitzt und ihr Blut in seinem goldenen Kelch aufgefangen. Königliches Blut.
    Das Blut der Frauen, um die Chartersteine zu brechen. Das Blut eines Mannes, um sie wiederherzustellen – Touchstones Blut. Sam blickte seinen Vater unauffällig an und fragte sich, wie er das gemacht hatte. Wochenlang hatte er hier ganz allein gearbeitet und jeden Morgen aufs Neue die Schnitte in seiner Handfläche mit einem silbernen, charterbehafteten Dolch geöffnet – Schnitte, die weiße Narben vom kleinen Finger bis zum Daumenballen hinterlassen hatten. Schnitte und Zauber, deren er sich nicht sicher gewesen war. Gefährliche Zauber – auch ohne das Risiko, das die gebrochenen Steine darstellten.
    Doch noch mehr Gedanken machte Sam sich über die Benutzung des Blutes, das auch in seinen Adern strömte. Es kam ihm seltsam vor, dass sein Herz auf gewisse Weise mit den Großen Steinen verwandt war. Einmal mehr wurde ihm seine Unkenntnis bewusst, vor allem, was die großen Geheimnisse der Charter betraf. Warum war das Blut des Königsgeschlechts, der Abhorsen und Clayr, anders als das der anderen Menschen – anders sogar als das Blut anderer Chartermagier, das nur die Kraft besaß, kleinere Steine zu zerbrechen und wiederherzustellen? Die drei Blutlinien waren als Große Charter bekannt, wie die Großen Steine und die Mauer. Aber warum? Warum enthielt ihr Blut Chartermagie – Magie, die nicht von Zeichen der allgemein zugänglichen Charter nachgeahmt werden konnte?
    Sam war immer schon von Chartermagie fasziniert gewesen, vor allem, wenn er damit etwas anfertigen konnte. Doch je mehr er sie einsetzte, umso deutlicher erkannte er, wie wenig er darüber wusste. In den zweihundert Jahren des Interregnums war unvorstellbares Wissen verloren gegangen. Was er wusste, hatte Touchstone an ihn weitergegeben, doch seine Spezialität war die Kampfmagie; über tieferes Wissen, was das Wesen der Chartermagie betraf, verfügte auch er nicht. Touchstone war Hofgardist gewesen, als die Königin starb, ein unehelicher Prinz, kein Magier. Danach war er zweihundert Jahre lang, während deren das Königreich beinahe zerfallen wäre, durch bösen Zauber als Galionsfigur gefangen gewesen.
    Wie dem auch sei – es war Touchstone gelungen, die Großen Steine wiederherzustellen. Er hatte anfangs viele Fehler gemacht und nur dank der Unterstützung und der Kraft der Steine überlebt. Trotzdem hatte es viele Monate gedauert und ebenso viele Jahre seines Lebens gekostet. Vor der Wiederherstellung der Steine war Touchstones Haar noch nicht von silbernen Strähnen durchzogen gewesen, so wie jetzt.
    Die Barke trieb zwischen zwei Säulen hindurch, und Sams Augen gewöhnten sich allmählich an das Zwielicht. Jetzt konnte er auch die sechs Großen Chartersteine sehen, ungefähr zwanzig Fuß hohe, dunkelgraue Monolithen, deren unregelmäßige Formen sich deutlich von der geglätteten Oberfläche der Säulen abhoben. Auch die andere Barke konnte er nun ausmachen. Sie trieb in der Mitte des Steinkreises. Aber wo war Sabriel?
    Plötzliche Furcht erfüllte Sam. Er musste daran denken, wie der Tote Kerrigor damals seine einstige Menschengestalt angenommen und Sams Großmutter, die Königin, in einen dunklen und blutigen Tod gelockt hatte. Vielleicht war Touchstone gar nicht der richtige Touchstone, sondern irgendetwas, das bloß seine Gestalt angenommen hatte…
    Auf der anderen Barke war nun Bewegung zu erkennen. Sam hielt den Atem an und zitterte vor Angst, seine Ängste könnten Wirklichkeit geworden sein. Was immer dort drüben sein mochte, es war nicht von menschlicher Gestalt. Es war nur halb so groß wie er und hatte weder Arme und Kopf noch eine erkennbare Form. Es war ein Klumpen sich windender Finsternis, wo seine Mutter sein sollte…
    Plötzlich klopfte Touchstone ihm auf den Rücken. Sam konnte mit einem Mal wieder atmen, und das Ding auf der Barke warf ein kleines Charterlicht, das in der Luft darüber wie ein winziger Stern funkelte – und deutlich machte, dass es doch Sabriel war. Sie hatte, in ihren dunkelblauen Umhang gehüllt, ausgestreckt auf der Barke gelegen

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