Das alte Königreich 02 - Lirael
gleichen Tonfall, dessen sie sich, wie Sam vermutete, als Mannschaftsführerin des Wyverley-Hockeyteams in Ancelstierre bedient hatte.
»Wir wissen nicht, wo oder was dieser heimliche Gegner ist«, entgegnete Sabriel. »Jedes Mal, wenn wir uns auf den Weg machen wollen, uns dort umzusehen, geschieht anderswo etwas, um das wir uns persönlich kümmern müssen. Vor fünf Jahren dachten wir, wir hätten die Wurzel des Übels bei der Schlacht von Roble gefunden…«
»Die Nekromantin«, unterbrach Sam sie. Er erinnerte sich sehr gut an diese Geschichte, und er hatte in den vergangenen Monaten auch viel über Nekromanten nachgedacht. »Die mit der Bronzemaske.«
»Ja. Maskenchlorr.« Sabriel blickte auf die goldene Barriere und hing offenbar schrecklichen Erinnerungen nach. »Sie war sehr alt und mächtig. Darum bin ich lange davon ausgegangen, dass sie auch für unsere heutigen Schwierigkeiten in diesem Gebiet verantwortlich ist. Doch jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Offenbar arbeitet jemand anderes daran, die Clayr zu verwirren und Unruhe im Königreich zu stiften. Es steckt auch irgendjemand hinter Corolini in Ancelstierre und vielleicht sogar hinter den Kriegen im Süden. Möglicherweise handelt es sich dabei um den Mann, dem du im Tod begegnet bist, Sam.«
»Den Nekromanten?« Sams Stimme klang schrill und aufgeregt, und er rieb unbewusst die Brandnarben an seinen Handgelenken.
»Er muss gewaltige Macht haben, dass er auf der anderen Seite der Mauer so viele Tote beleben kann«, erwiderte Sabriel. »Bei so viel Macht müsste ich eigentlich von ihm gehört haben, aber so ist es nicht. Wie hat er sich die vielen Jahre verstecken können? Wie hatte Chlorr sich verborgen, als wir nach Kerrigors Fall das Königreich durchkämmten, und warum ist sie aufgetaucht und hat die Stadt Roble angegriffen? Habe ich Chlorr unterschätzt? Vielleicht ist sie mir sogar noch entkommen, als ich sie durch das Sechste Tor trieb. Ich war damals so schrecklich müde, dass ich ihr nicht bis zum Neunten Tor gefolgt bin. Ich hätte es tun sollen. Es war etwas Merkwürdiges an ihr… etwas, das mehr war als der übliche Geruch von Freier Magie oder Nekromantie…«
Sie machte eine Pause und starrte blicklos ins Leere. Dann blinzelte sie und fuhr fort: »Chlorr war alt, alt genug, dass sie anderen Abhorsen vor mir begegnet sein konnte. Und ich vermute, dass dieser andere Nekromant ebenfalls sehr alt ist. Aber ich habe im Haus weder Hinweise auf sie noch auf ihn gefunden. Zu viele Unterlagen gingen verloren, als das Schloss niederbrannte, und weitere verschwanden im Lauf der Zeit. Die Clayr bewahren zwar alles in ihrer riesigen Bibliothek auf, finden dort aber nur selten etwas Nützliches. Ihr Geist beschäftigt sich zu sehr mit der Zukunft. Ich würde mich gern selbst in ihrer Bibliothek umsehen, aber dazu würde ich Monate, wenn nicht Jahre brauchen. Ich glaube, Chlorr und dieser Nekromant waren verbündet und sind es vielleicht immer noch, falls Chlorr überlebt hat. Doch wer von beiden das Sagen hat, steht nicht fest. Ich fürchte, wir werden außerdem feststellen, dass sie nicht allein sind. Aber wer es auch ist, der gegen uns vorgeht, oder was es auch ist – er darf seine Pläne nicht verwirklichen.«
Das Licht schien bei Sabriels Worten dunkler zu werden, und das Wasser kräuselte sich, als wäre eine Brise durch den Schutz des goldenen Lichtes um die Steine gedrungen.
»Welche Pläne meinst du?«, fragte Ellimere. »Was haben sie vor?«
Sabriel blickte Touchstone unsicher an, ehe sie fortfuhr.
»Wir befürchten, dass sie alle zweihunderttausend Südlinge ins Alte Königreich bringen und töten wollen«, flüsterte sie dann, als hätte sie nun doch Angst, dass sie belauscht werden könnten. »Zweihunderttausend Tote in einer einzigen Minute, um für jeden Geist, der zwischen der Ersten Zone und dem Abgrund des Neunten Tores zögerte, eine Straße aus dem Tod zu schaffen. Um eine Heerschar von Toten zu rufen, die größer sein wird als alle Armeen, die diese Welt je gesehen hat. Eine Heerschar, die wir nicht schlagen könnten – nicht einmal, wenn sämtliche Abhorsen, die jemals gelebt haben, sich gemeinsam gegen sie stellen würden.«
25
EINE FAMILIENKONFERENZ
Schweigen folgte Sabriels Worten, als alle sich eine Heerschar von zweihunderttausend Toten vorstellten und Sam sich bemühte, dieses grauenvolle Bild zu verdrängen. Eine Horde Toter… ein Meer taumelnder, hungriger Leichen, die sich ihm unerbittlich
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