Das alte Königreich 03 - Abhorsen
angegeben und änderte, wo erforderlich, die Richtung, wie sie es sich eingeprägt hatte.
Sie war so intensiv mit den Details beschäftigt, dass sie beinahe ins Zweite Tor fiel. Nur der Umstand, dass die Hündin sie rasch am Gürtel fasste, rettete sie, als sie einen Schritt zu viel tat und »elf« zählte, wenngleich ihr Verstand sagte: »Schluss bei zehn.«
Im allerletzten Augenblick versuchte sie zurückzuweichen, doch die Macht des Zweiten Tores war viel stärker als die gewohnte Strömung des Flusses. Nur ihre getreue Hündin rettete sie, wobei sie beide all ihre Kräfte brauchten, um sich aus dem Griff des Tores zu befreien, denn das Zweite Tor war ein riesiges Loch, in dem der Fluss in einem gewaltigen Strudel verschwand.
»Danke«, sagte Lirael zitternd, als sie in den Strudel blickte und sich vorstellte, was beinahe geschehen wäre. Die Hündin antwortete nicht sofort, denn sie war dabei, ihr Gebiss von einem zerfetzten Stück Leder zu befreien, das eben noch ein Gürtel gewesen war.
»Lass dir hier Zeit, Gebieterin«, riet die Hündin beruhigend. »Wir werden anderswo schnell sein müssen, aber nicht hier.«
»Ja«, pflichtete Lirael bei und bemühte sich, zu Atem zu kommen. Als sie sich wieder gesammelt hatte, stand sie hoch aufgerichtet und rezitierte weitere Worte Freier Magie, die ihren Mund mit plötzlicher Hitze füllten und ihre eisigen Wangen seltsam leuchten ließen.
Die Worte waren kaum verhallt, da wirbelten die Wasser des Zweiten Tores langsamer und kamen bald darauf zum Stillstand. Jede schäumende Woge war zu einer Stufe geworden, die eine nach der anderen einen Pfad bildete, der sich schier endlos in die Tiefe wand. Lirael stieg auf den Anfang des Pfades und schritt dann hinunter. Hinter und über ihr begann der Strudel sich wieder zu drehen.
Es sah so aus, als müsste sie hundertmal oder öfter rundum gehen, bis sie den Fuß der Wendeltreppe erreichte, doch Lirael wusste, dass es eine Täuschung war. Es dauerte nur wenige Minuten, das Zweite Tor zu passieren – Minuten, in denen ihre Gedanken sich bereits mit der Dritten Zone und den Fallen beschäftigten, die auf den Unvorsichtigen warteten.
Denn der Fluss war hier nur knöcheltief und ein wenig wärmer. Auch das Licht war besser – heller und klarer, doch immer noch blassgrau. Selbst die Strömung war kaum spürbar an den Knöcheln. Die Dritte Zone war ein wesentlich angenehmerer Aufenthaltsort als die Erste und Zweite. Unerfahrene oder allzu sorglose Nekromanten mochten versucht sein, länger zu verweilen, doch wenn sie es taten, dann nicht zu lange, denn in der Dritte Zone gab es Wogen.
Lirael wusste es und rannte los, sobald sie durch das Zweite Tor war. Dies war einer der Orte im Totenreich, an dem Eile geboten war; deshalb lief Lirael, so schnell ihre Beine sie trugen. Hinter sich konnte sie das Donnern der Woge hören, die derselbe Zauber angehalten hatte, der den Strudel zum Stillstand brachte. Sie sah sich nicht um, konzentrierte sich ganz auf ihre Geschwindigkeit. Wenn die Woge sie erwischte, würde deren Gewalt sie durchs Dritte Tor schleudern, und dann würde sie betäubt und völlig hilflos dahintreiben.
»Schneller!«, rief die Hündin, und Liraels Füße flogen. Das Tosen der Woge war so nah, dass es kein Entkommen mehr zu geben schien.
Lirael erreichte den Nebel des Dritten Tores kaum mehr als einen Schritt vor der Woge und beschwor noch im Laufen den notwendigen Zauber Freier Magie. Diesmal war die Hündin vor ihr, und der Zauber teilte den Nebel gerade noch vor ihrer Schnauze.
Als sie keuchend in der Nebeltür innehielten, brach die Woge donnernd um sie herum und spülte ihren Ballast von Toten über den Wasserfall dahinter. Lirael wartete, bis sie wieder zu Atem kam und der Pfad vor ihnen erschien. Dann schritt sie in die Vierte Zone.
Sie durchquerten auch diese Zone so rasch wie möglich. Die Vierte Zone war verhältnismäßig einfach zu begehen, denn hier gab es für den Unachtsamen keine Löcher oder andere Fallen. Allerdings war die Strömung hier wieder stark, kräftiger sogar als in der Ersten Zone. Doch Lirael hatte sich an die Kälte und Unberechenbarkeit der Strömung gewöhnt.
Sie blieb wachsam. Neben den bekannten Gefahren in jeder Zone musste sie stets damit rechnen, auf etwas Neues, Unbekanntes zu stoßen, oder auf etwas so Altes und Seltenes, dass es im
Buch der Toten
nicht erwähnt war. Überdies wies das Buch auf Mächte hin, die das Totenreich betreten konnten, abgesehen von den Toten
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