Das alte Königreich 03 - Abhorsen
in den Boden.
»Du kommst mit mir!«, befahl Lirael. Der Befehlston überdeckte das Zittern in ihrer Stimme. »Wir nehmen uns Hedge gemeinsam vor, wenn es so weit ist. Jetzt müssen wir weiter!«
»Also gut, also gut«, murrte die Hündin. Sie stand auf und schüttelte sich, und der halbe Fluss ergoss sich über Lirael.
»Was auch passiert«, fuhr Lirael leise fort, »ich will, dass wir zusammenbleiben.«
Die Fragwürdige Hündin sah mit besorgtem Blick zu ihr hoch, sagte aber nichts. Lirael hätte beinahe noch etwas hinzugefügt, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken, und sie musste eine erneute Gefahr durch schwimmendes Feuer abwehren.
Schließlich schritten sie Seite an Seite weiter und traten wenige Minuten später zuversichtlich durch die Dunkelheit des Achten Tores. Alles Licht erlosch. Lirael konnte nichts sehen, nichts hören, nichts fühlen, nicht einmal ihren eigenen Körper. Es schien, als wäre ihr Bewusstsein plötzlich isoliert, vollkommen allein, abgeschnitten von sämtlichen äußeren Eindrücken.
Aber das hatte sie erwartet, und wenngleich sie ihren Mund nicht spüren konnte und ihre Ohren nichts zu hören vermochten, sprach sie die Beschwörung für den Zauber, der sie durch diese undurchdringliche Finsternis geleiten würde – hindurch zur Neunten und letzten Zone des Todes.
Die Neunte Zone unterschied sich vollkommen von allen anderen Teilen des Totenreichs. Lirael blinzelte, als sie aus der Finsternis des Achten Tores ins Licht gelangte. Das vertraute Gefühl der Strömung an ihren Beinen verschwand. Der Fluss plätscherte ruhig um ihre Knöchel. Das Wasser war warm. Die schreckliche Kälte, die in allen anderen Zonen vorgeherrscht hatte, lag hinter ihnen.
Überall sonst im Totenreich hatten sie des grauen Lichts wegen, das die Sicht so sehr einschränkte, das Gefühl der Eingeschlossenheit empfunden. Hier war das Gegenteil der Fall. Das Empfinden war das einer endlosen Weite, und Lirael konnte meilenweit über eine glänzende Wasseroberfläche sehen.
Zum ersten Mal bot auch der Blick nach oben mehr als nur verschwommenes, deprimierendes Grau. Viel mehr. Es gab einen Himmel, einen Nachthimmel so voller Sterne, dass sie sich überlagerten und zu einer unvorstellbaren strahlenden Wolke verschmolzen. Man konnte keine Sternbilder, keinerlei Muster erkennen. Da war nur eine Masse von Sternen; ihr Licht war ebenso hell, wenn auch sanfter, wie das Sonnenlicht in der Welt der Lebenden.
Lirael spürte, dass die Sterne sie riefen, und die Sehnsucht zu antworten wuchs in ihrem Herzen. Sie steckte die Glocke zurück, schob das Schwert in die Scheide und hob die Arme dem strahlenden Himmel entgegen. Dann begann sie aufzusteigen. Ihre Füße lösten sich mit leisem Plätschern und Tröpfeln aus dem Wasser.
Sie sah, dass auch Tote aufstiegen. Tote jedweder Gestalt und Größe schwebten dem Meer der Sterne entgegen. Manche glitten langsam empor, andere so schnell, dass das Auge nicht zu folgen vermochte.
Irgendwo in einem Winkel von Liraels Verstand warnte eine Stimme davor, dem Ruf des Neunten Tores zu folgen. Der Sternenvorhang war die letzte Grenze, der endgültige Tod, aus dem es keine Rückkehr gab. Diese Stimme in ihrem Verstand schrie von Verantwortung, und Bilder von Orannis, der Fragwürdigen Hündin, Sam, Nick und der ganzen Welt der Lebenden drangen in ihr Bewusstsein. Liraels Willen wehrte sich vehement gegen das überwältigende, jedoch trügerische Gefühl von Frieden und Ruhe, das die Sterne verhießen.
Noch nicht, schrie die Stimme in ihr. Noch nicht!
Der Aufschrei erhielt eine unerwartete Antwort. Die Sterne zogen sich plötzlich in unendliche Ferne zurück. Lirael blinzelte, schüttelte den Kopf und fiel mehrere Fuß tief neben der Hündin, die noch immer zum leuchtenden Himmel blickte, ins Wasser.
»Warum hast du mich nicht zurückgehalten?«, fragte Lirael zutiefst erschrocken. Sie wusste, ein paar Sekunden länger, und es hätte keine Rückkehr mehr gegeben. Sie wäre für immer durch das Neunte Tor gegangen.
»Weil sich alle, die hierher kommen, dieser Prüfung ganz allein stellen müssen«, flüsterte die Hündin. Sie blickte noch immer zum Himmel. »Für alles und jeden kommt die Stunde des Todes. Einige verleugnen es oder suchen Wege, ihrem Schicksal zu entgehen, doch es gibt keine Flucht vor der Wahrheit. Nicht, wenn man zu den Sternen des Neunten Tores emporschaut. Ich bin froh, dass du zurückgekommen bist, Gebieterin.«
»Und ich erst«, sagte Lirael unruhig.
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