Das alte Königreich 03 - Abhorsen
starken Gardistenstreitmacht zu Hilfe eilte. Sabriel und Touchstone mochten ebenfalls bereits von Corvere nach Norden unterwegs sein. Vielleicht überquerten sie gerade die Mauer.
Aber sie alle würden nach Edge reiten, während die Hemisphären mit ihrer gefangenen Kreatur in Ancelstierre untertauchten, wo der uralte Geist der Zerstörung seine Freiheit wiedererlangen konnte, unbehelligt von den einzigen Personen, die wussten, welche Gefahr von ihm drohte.
Während sie grübelte, wurde ihr bewusst, dass auch Nick sie beobachtete, jedoch nicht verwirrt oder gar feindselig. Er sah sie nur an, den Kopf leicht geneigt, ein Auge halb geschlossen.
»Entschuldige«, sagte er. »Ich frage mich die ganze Zeit, woher du Sam kennst. Bist du eine Prinzessin? Ich meine, wenn du seine Verlobte bist, hätte ich das gern gewusst, um… äh, wenigstens zu gratulieren. Und ich weiß nicht einmal deinen Namen.«
»Lirael«, erwiderte sie kurz. »Ich bin Sams Tante. Ich bin die Ab… nein, ich will es so ausdrücken: Sams Mutter und ich haben gemeinsame Interessen. Auch war ich Zweite Bibliotheksassistentin und eine Tochter der Clayr, aber ich glaube nicht, dass diese Titel dir etwas sagen. Im Augenblick habe sogar ich selbst meine Zweifel.«
»Seine Tante!«, entfuhr es Nick, und sein Gesicht rötete sich aus Verlegenheit, nicht vom Fieber. »Wie ist das möglich? Ich hatte ja keine Ahnung. Ich bitte um Verzeihung, Madam.«
»Und ich bin… viel älter, als ich aussehe«, fügte Lirael hinzu. »Für den Fall, dass dir die Frage auf der Zunge liegt.«
Sie war selbst ein wenig verlegen, obwohl sie sich nicht denken konnte, warum. Es fiel ihr noch immer schwer, über ihre Mutter zu reden. Auf manche Weise war es jetzt, da sie über ihren Vater und ihre Herkunft Bescheid wusste, schmerzlicher, an sie zu denken. Eines Tages, nahm sie sich vor, würde sie herausfinden, was mit Arielle geschehen war und warum sie sich entschlossen hatte fortzugehen.
»Wäre mir nicht eingefallen, sie zu stellen«, erwiderte Sam. »Es mag sich verrückt anhören, aber ich fühle mich so gut wie seit Wochen nicht. Hätte nie gedacht, dass der Sumpf eine heilende Wirkung hat. Ich bin heute nicht einmal ohnmächtig geworden.«
»Doch. Einmal«, sagte Lirael. »Als wir dich aus dem Zelt holten.«
»Bin ich?«, fragte Nick. »Wie peinlich. Ich scheine oft ohnmächtig zu werden. Zum Glück passiert es meist, wenn Hedge da ist und mir helfen kann.«
»Spürst du es kommen?«, fragte Lirael. Sie hatte die Warnung der Hündin nicht vergessen, dass das Fragment früher oder später erwachen würde, und sie war ziemlich sicher, dass sie es allein nicht bezwingen konnte.
»Normalerweise«, sagte Nick, »beginnt es mit Übelkeit, und meine Augen spielen verrückt… alles wird rot. Und dann geschieht irgendetwas mit meinem Geruchssinn. Alles riecht verschmort, als wäre ein Elektromotor durchgebrannt. Aber jetzt fühle ich mich viel besser. Vielleicht ist das Fieber gesunken.«
»Es ist kein Fieber«, sagte Lirael müde. »Auch wenn ich mir für uns beide wünsche, dass es Fieber wäre. Verhalte dich jetzt ruhig. Ich werde ein Stück weiter hinausrudern. Wir bleiben im Schilf, aber ich möchte sehen, was draußen am See vor sich geht. Und bitte, sei leise.«
»Klar«, sagte Nick. »Hab ich denn eine andere Wahl?«
Lirael war nahe daran, sich zu entschuldigen, hielt jedoch an sich. Nick tat ihr Leid. Es war nicht seine Schuld, dass ein alter Geist des Bösen ausgerechnet ihn für seine Wiedergeburt auserwählt hatte. Irgendwie hegte sie mütterliche Gefühle für Nick. Eigentlich sollte er im Bett liegen und Weidenrindentee trinken. Dieser Gedanke führte zu der überflüssigen Spekulation, wie er wohl aussah, wenn er gesund war. Ziemlich attraktiv, dachte Lirael und verbannte den Gedanken sofort. Er mochte vielleicht nicht wissen, dass er ein Feind war, doch er war trotzdem ein Feind.
Das Schilfboot war leicht, doch es war anstrengend, nur mit den Händen zu paddeln. Hinzu kam, dass sie Nicholas im Auge behalten musste, falls er Ärger machte. Doch er lag vollauf zufrieden am Bug des Bootes. Sie ertappte ihn dabei, wie er sie heimlich beobachtete, doch er versuchte nicht zu fliehen oder um Hilfe zu rufen.
Nach ungefähr zwanzig Minuten anstrengenden Paddelns lichtete sich das Schilf, das rote Wasser wurde rosa, und Lirael konnte den Grund des Sees erkennen. Die Sonne stand schon ziemlich hoch, und so wagte sie sich an den Rand des Schilfs, von wo sie auf
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