Das alte Königreich 03 - Abhorsen
den See hinausblicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden, auch nicht von oben, denn die Binsen schwankten und lehnten sich gegeneinander. Dennoch war Lirael erleichtert, dass sie keine Blutkrähen in der Nähe spürte. Wahrscheinlich hielten die starke Strömung außerhalb des verwachsenen Ufers und die helle Morgensonne die Kreaturen ab.
Somit drohte keine unmittelbare Gefahr aus der Luft, doch irgendetwas bewegte sich draußen auf dem See. Einen Augenblick lang glaubte Lirael hoffnungsvoll, dass es Sam wäre oder eine Gardisteneinheit. Dann erkannte sie, was es war – gleichzeitig mit Nick.
»Das sind meine Kähne!«, rief er, setzte sich auf und winkte. »Hedge muss einen zweiten aufgetrieben haben, und er ist bereits beladen!«
»Still!«, zischte Lirael, griff nach ihm und drückte ihn nieder.
Er wehrte sich nicht, doch er runzelte plötzlich die Stirn und griff sich an die Brust. »Ich glaube… ich glaube, ich habe mich zu früh…«
»Kämpf dagegen an!«, unterbrach Lirael ihn heftig. »Nick, du musst dagegen ankämpfen!«
»Ich versuche…«, begann Nick, vollendete den Satz aber nicht. Sein Kopf fiel nach hinten. Er verdrehte die Augen, und Lirael sah dünne Rauchschwaden, die ihm aus Nase und Mund stiegen.
Sie schlug ihn hart ins Gesicht.
»Kämpfe! Du bist Nicholas Sayre! Sag mir, wer du bist!«
Das Weiße verschwand aus Nicks Augen, doch immer noch quoll ihm Rauch aus der Nase.
»Ich bin… Nicholas John… Andrew Sayre«, flüsterte er. »Ich bin Nicholas… Nicholas…«
»Ja?«, drängte Lirael. Sie legte das Schwert neben sich, ergriff seine Hände und schauderte, als sie die Freie Magie in seinem Blut unter der kalten Haut spürte. »Erzähl mir mehr über dich, Nicholas John Andrew Sayre! Wo wurdest du geboren?«
»Ich kam in Amberne zur Welt, das schon seit undenklichen Zeiten im Besitz meiner Familie ist«, flüsterte Nick. Seine Stimme wurde kräftiger und der Rauch verzog sich allmählich. »Im Billardzimmer. Nein, das ist ein Witz. Mutter würde mich dafür umbringen. Meine Geburt verlief einem Sayre angemessen im Beisein von Arzt und Hebamme. Sogar zwei Hebammen…«
Nick schloss die Augen, und Lirael drückte seine Hände fester.
»Erzähl mir irgendetwas, was dir gerade einfällt!«, verlangte sie.
»Das spezifische Gewicht von in Quecksilber schwimmendem Orbilit ist… ich habe keine Ahnung… In Korrovia schneit es nur in den südlichen Alpen, und die wichtigsten Pässe sind der Kriskadt, Jorstschi und Korbuk… Der blauschwänzige Kiebitz legt im Durchschnitt sechsundzwanzig Eier während der vierundfünfzig Jahre seines Lebens. Mehr als hunderttausend Südlinge kamen im letzten Jahr illegal ins Land. Der Schokoladenbaum ist eine Erfindung der…«
Er stockte, holte tief Luft und öffnete die Augen. Lirael hielt noch einen Moment lang seine Hände, doch als sie sah, dass kein Rauch mehr kam und sein Blick klar war, ließ sie los, griff wieder nach ihrem Schwert und legte es auf ihre Schenkel.
»Ich stecke bis zum Hals in Schwierigkeiten, nicht wahr?« Nick starrte auf den Boden des Bootes, um sein Gesicht zu verbergen, und zwang sich, regelmäßig zu atmen.
»Ja«, bestätigte Lirael. »Aber Sameth und ich und die… unsere Freunde… wir tun alles, was in unserer Macht steht, um dich zu retten.«
»Aber ihr glaubt nicht, dass ihr es könnt«, sagte Nick leise. »Dieses… Ding in mir, was ist das?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Lirael. »Nur dass es Teil eines mächtigen, uralten Grauens ist und dass es mit deiner Hilfe frei sein wird und unvorstellbare Zerstörung bringt.«
Nick nickte langsam, blickte auf und sah in Liraels Augen.
»Es war wie ein Traum«, sagte er. »Die meiste Zeit weiß ich gar nicht, ob ich wach bin oder nicht. Ich vergesse Dinge von einer Minute zur anderen. Ich kann an nichts anderes denken als die Hemis…«
Er hielt inne. Furcht spiegelte sich in seinen Augen und er suchte Halt bei Lirael. Sie nahm seine linke Hand, ließ ihr Schwert aber nicht los. Sollte die schreckliche Kreatur wieder Besitz von Nick ergreifen, würde sie sich mit der Klinge befreien müssen.
»Alles in Ordnung, alles in Ordnung«, wiederholte Nick. Sein Oberkörper schaukelte vor und zurück, während er sprach. »Ich habe es in der Gewalt. Sag mir, was ich tun muss.«
»Hör nicht auf zu kämpfen«, beschwor ihn Lirael, die ihm nicht viel mehr sagen konnte. »Wenn wir dich nicht halten können, musst du selbst alles tun, um es aufzuhalten, wenn es so
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