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Das alte Königreich 03 - Abhorsen

Titel: Das alte Königreich 03 - Abhorsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Garth Nix
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zum Innehalten. Ihre Beine versagten den Dienst. Zum Glück war das Wasser nur knietief. Lirael setzte sich in die nassen, schlammigen Binsen.
    All ihre Sinne waren ganz auf einen Verfolger ausgerichtet, doch nichts schien hinter ihr her zu sein – zumindest nichts, das sie über die Donnerschläge ihres Herzens hinweg hören konnte, die durch jede Ader ihres Körpers dröhnten. Sie blieb geraume Zeit in dem schlammigen Wasser sitzen. Als sie schließlich glaubte, sich wieder bewegen zu können, ohne dass ihr Tränen in die Augen stiegen oder sie sich übergeben musste, erhob sie sich und stapfte weiter.
    Während sie dahinwatete, überdachte sie, was sie getan hatte – oder auch nicht. Immer wieder liefen die Vorgänge in ihren Gedanken ab. Du hättest die Glocken schneller zur Hand haben müssen, sagte sie sich und erinnerte sich an ihr Zögern und ihre Ungeschicklichkeit. Vielleicht hätte sie Nick mit der Klinge durchbohren sollen. Aber das erschien ihr nicht richtig im Hinblick darauf, dass er keine Ahnung hatte, was sich in ihm eingenistet hatte und dass es auf Reinkarnation wartete. Es hätte wahrscheinlich auch nicht viel bewirkt, denn das Fragment würde einem toten Nick ebenso wie einem lebenden innewohnen können. Es hätte dabei vielleicht sogar in sie eindringen können…
    Auch die Vision der Clayr von einer zerstörten Welt war lebendig in ihr. Hatte sie die Gelegenheit verpasst, den Zerstörer zu vernichten? Waren diese wenigen Minuten mit Nick im Schilfboot ein Kulminationspunkt für das Schicksal der Welt gewesen? Eine lebenswichtige Chance, die sie vertan hatte?
    Sie grübelte noch immer darüber nach, als das Wasser zu ihren Füßen in Morast überging. Das Schilf wurde dünner. Sie näherte sich dem Rand des Marschgebiets. Aber da diese Marsch sich über gut zwanzig Meilen entlang dem Ostufer des Roten Sees erstreckte, hatte Lirael keine Ahnung, wo sie sich befand.
    Sie schätzte die südliche Richtung nach der Stellung der Sonne und dem Schatten eines hohen Schilfstängels und setzte sich in dieser Richtung in Bewegung, stets am Rand der Marsch entlang. Es war der anstrengendere, aber sicherere Weg, falls Hedge Tote selbst im hellen Sonnenlicht auf sie ansetzte.
     
    Zwei Stunden später war Lirael völlig durchnässt, dank eines verborgenen tiefen Loches auf dem Weg. Sie steckte fast ganz in einem klebrigen, ekligen Gemisch aus stinkenden roten Pollen und schwarzem Schlamm. Die Marsch schien kein Ende zu nehmen, und weit und breit war kein Zeichen von ihren Freunden zu sehen.
    Zweifel überkamen Lirael. Sie fürchtete um ihre Gefährten, vor allem um die Fragwürdige Hündin. Vielleicht war sie von der schieren Übermacht der Toten überwältigt oder von Hedge bezwungen worden, so wie das Fragment in Nick ihre Magie überwunden hatte, als wäre nichts gewesen.
    Vielleicht waren ihre Gefährten verwundet. Oder sie kämpften noch und trieben sich zu größerer Eile an. Doch ohne sie, Lirael, und die Glocken wäre ihr Kampf gegen die Toten aussichtslos. Sam hatte das
Buch der Toten
noch gar nicht zu Ende gelesen. Er war kein Abhorsen. Was, wenn ein Mordicant sie verfolgte, oder eine andere Kreatur, die stark genug war, die Mittagssonne zu ertragen?
    Der Gedanke daran trieb sie aus dem Schilf, und sie begann auf festem Boden abwechselnd zu laufen und zu gehen. Hundert Schritte laufen, hundert Schritte gehen, wobei sie ständig nach Blutkrähen, anderen Toten und Hedges menschlichen Sklaven Ausschau hielt.
    Einmal sah – und spürte sie – Tote in der Nähe, doch sie waren in einiger Entfernung auf der Flucht vor der grellen Sonne, die an ihnen fraß, an ihrem Fleisch und ihrem Geist. Die Sonne würde sie zurück ins Totenreich treiben, wenn sie keinen Unterschlupf in einer Höhle oder einem leeren Grab fanden.
    Bald fühlte sie sich wie ein Tier, das sowohl Jäger als auch Gejagter ist – wie ein Fuchs oder Wolf. Sie hatte nur eines im Sinn, so schnell wie möglich den Fluss zu erreichen und an seinem Ufer entweder ihre Freunde zu finden oder – wie sie befürchtete – Hinweise darauf, was mit ihnen geschehen war. Gleichzeitig hatte sie das unangenehme Gefühl, dass hinter jeder Bodenerhebung und jedem verkümmerten Baum ein Feind auf sie lauerte oder jeden Augenblick aus dem Himmel auf sie herabstieß.
    Wenigstens irrst du nicht mehr ziellos umher, dachte Lirael, als sie die Linie der Büsche und Bäume vor sich sah, die das Flussufer säumten. Es war weniger als eine halbe Meile bis dort.

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