Das alte Königreich 03 - Abhorsen
Er wollte sie eben an sich ziehen, als der Schlammgeruch ihn innehalten ließ. Seine offenen Arme schlossen sich in einer hastigen Geste der Begrüßung. Lirael entging nicht, dass er nach jemandem hinter ihr Ausschau hielt.
»Danke für die rettenden Schüsse«, sagte sie. Dann fügte sie hinzu: »Ich habe Nick verloren, Sam.«
»Du hast ihn verloren?«
»Ein Fragment des Zerstörers ist in ihm. Es hat Nick in der Gewalt. Ich konnte es nicht bezwingen. Es hat mich fast getötet, als ich es versuchte.«
»Was meinst du mit ›Fragment‹ des Zerstörers? Was meinst du mit ›in ihm‹?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Lirael und holte tief Luft, ehe sie fortfuhr: »Es tut mir Leid. Die Hündin meint, dass ein Metallsplitter von einer der Hemisphären in seinem Körper ist. Mehr kann ich auch nicht sagen. Aber es würde erklären, warum Nick mit Hedge zusammenarbeitet.«
»Wo befindet er sich im Augenblick?«, fragte Sam. »Und was machen wir jetzt?«
»Nick ist mit größter Wahrscheinlichkeit auf einem der Kähne, mit denen Hedge die Hemisphären transportiert«, erwiderte Lirael. »Und zwar nach Ancelstierre.«
»Ancelstierre!«, entfuhr es Sam, und Mogget tauchte aus seinem Rucksack auf. Der kleine Kater lief mehrere Schritte auf Lirael zu, rümpfte das Näschen und wich zurück.
»Ja«, erwiderte Lirael seufzend und ignorierte Moggets Reaktion. »Es sieht so aus, als hätten Hedge oder der Zerstörer selbst einen Weg gefunden, über die Mauer zu gelangen. Sie transportieren die Hemisphären mit den Kähnen, so weit sie können. Dann überqueren sie die Mauer und schaffen die Hemisphären an einen Ort namens Forwins Mühle, wo Nick mit tausend Blitzableitern die gesamte Kraft eines Gewitters in die Hemisphären leiten will. Damit wird es möglich sein, sie zu vereinigen, und dann wird ihr Bewohner, wer immer er ist, wieder frei. Und die Charter mag wissen, was dann geschieht!«
»Vollkommene Zerstörung«, sagte die Hündin tonlos. »Das Ende allen Lebens.«
Stille folgte ihren Worten. Sie sah auf und begegnete Sams und Liraels Blicken. Nur Mogget leckte sich unbeeindruckt die Pfote.
»Ich schätze, ich muss euch jetzt sagen, wer unser Feind ist«, stellte die Hündin fest. »Aber wir sollten erst einen geschützten Ort suchen. Alle Toten, die für Hedge gegraben haben, sind noch immer unterwegs, und die, die stark genug sind, das Tageslicht zu ertragen, werden nach Leben hungern.«
»Es gibt eine Insel in der Flussmündung«, sagte Sam. »Sie ist nicht groß, aber besser als nichts.«
»Bring uns hin«, sagte Lirael müde. Sie wäre am liebsten sofort in Schlaf gesunken, um nicht wieder die unvermeidlichen Einwände der Hündin hören zu müssen. Aber es würde nichts nützen. Sie mussten es wissen.
Die Insel war ein riesiger rauer Steinhaufen, der von verkrüppelten Bäumen bestanden war. Einst war sie ein kleiner Hügel am Seeufer gewesen, an dem der Fluss vorbeirauschte, doch vor Jahrhunderten war der Wasserspiegel des Sees gestiegen, oder das Flussbett hatte sich gespalten. Jetzt lag die Insel in der breiten Flussmündung, umgeben von fließendem Wasser im Norden, Süden und Osten und den Untiefen des Sees im Westen.
Die Gefährten wateten hinüber. Mogget klammerte sich an Sams Schulter, während die Hündin zwischen ihnen schwamm. Lirael fiel auf, dass ihre vierbeinige Freundin, anders als alle anderen Hunde, den Kopf dabei ganz unter Wasser tauchte. Und welche Macht fließendes Wasser über die Toten und einige Wesen der Freien Magie auch hatte – über die Fragwürdige Hündin besaß es keinerlei Macht.
»Wie kommt es, dass du so gern schwimmst, aber nie baden willst?«, fragte Lirael neugierig, als sie aus dem Wasser kamen. Sie fanden einen sandigen Platz zwischen den Felsen und schlugen ein behelfsmäßiges Lager auf.
»Schwimmen ist Schwimmen, da riecht alles wie immer«, erklärte die Hündin. »Beim Baden kommt Seife zum Einsatz.«
»Seife! Wär das schön, wieder mal Seife zu haben!«, rief Lirael aus. Einiges von dem Schlamm und den roten Pollen hatte der Fluss abgewaschen, aber nicht genug. Sie fühlte sich so schmutzig, dass ihr das Denken schwer fiel. Doch sie wusste aus Erfahrung, dass die Hündin jeden Aufschub zum Anlass nehmen würde, ihnen nichts zu erzählen. So setzte Lirael sich auf ihren Rucksack und blickte die Hündin erwartungsvoll an. Auch Sam ließ sich nieder, und Mogget streckte sich genussvoll, bevor er es sich im Sand bequem machte.
»Also, sag uns jetzt«,
Weitere Kostenlose Bücher