Das Amulett der Pilgerin - Roman
Millers frischen Hemden an, dann nahm er seine Waffen wieder an sich und war bereit. In seinem Kopf hatte er alle Möglichkeiten mehrmals durchgespielt. Am wahrscheinlichsten war, dass Thorn im Besitz der Liste war und Viviana mit ihm gemeinsame Sache machte. In seiner Position als Agent der Geheimen Kanzlei war Thorn ein wertvoller Verbündeter, und wenn Viviana doch tiefer in diese Sache verstrickt war, als er angenommen und sie zugegeben hatte, dann würde es Sinn machen, dass sie sich mit ihm verbündete.
»Ich werde jetzt Thorn in Richtung London verfolgen«, sagte er zu Rinaldo, der mit seinem Mahl fertig war. »Sie sollten sich auch, so schnell es geht, auf den Weg machen, denn es werden zwei Männer als Verstärkung erwartet.«
»Ich schließe mich Ihnen an, wenn es recht ist.«
»Warum?«, fragte Julian überrascht.
»Melchor Thorn hat mir etwas gestohlen, und das muss ich wiederhaben.«
Keine Viertelstunde später hatten sie auf den Pferden von Miller und Emmitt die Stadtgrenze passiert. Julian fragte sich, was Thorn dem Spanier wohl abgenommen hatte. Es musste von großer Wichtigkeit sein, denn es war deutlich, dass Rinaldo Thorn bis vor die Höllentore verfolgen würde. Julian hatte befürchtet, dass der Spanier ihn möglicherweise aufhalten würde, aber jetzt sah es nicht danach aus, als wenn er überhaupt zu bremsen wäre, denn Rinaldo trieb sein Pferd stetig an. Julian zog sich die Kapuze von Millers Umhang über das Gesicht, denn er wollte nicht Gefahr laufen, von den zusätzlichen Männern aus Westminster erkannt zu werden, sollten sie sich auf der Hauptstraße begegnen. Er fragte sich, wen der Kardinal geschickt hatte. Nicht alle Agenten waren so leichtgläubig und unaufmerksam wie Miller. Zugegeben, Melchor Thorns Sicht der Dinge infrage zu stellen, das war eine unangenehme Sache, aber es war jämmerlich, dass sich Miller dem nicht aussetzen wollte. Es konnte natürlich auch sein, dass es ihm schlicht gleichgültig war, was aus Julian wurde, Hauptsache, die Angelegenheit wurde erledigt und es entstand keine weitere Arbeit für Miller. Julian ging im Geiste die anderen Agenten durch, aber er war jetzt schon zwei Wochen unterwegs und wusste nicht, wer derzeitig mit welchen Aufgaben betraut war. In der Eile hatte er im Büro auch nicht Vivianas Zeugenaussage über seinen vermeintlichen Hochverrat gefunden. Vielleicht trug Miller dieses Pergament bei sich. Es traf Julian, dass sie nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten, ihn so einfach ans Messer geliefert hatte. Aber er konnte ihr nichts vorwerfen, sie hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie sich selbst am nächsten stand. Er hatte schon so viele Fehler begangen, weil er sich Hoffnungen und Träumen hingegeben hatte, dachte Julian. Das musste endlich ein Ende haben.
»Viviana ist also eine Agentin Ihrer Feinde?«, fragte Rinaldo, als hätte er Julians Gedanken gelesen. Sie ritten etwas langsamer, damit die Pferde nicht vorzeitig ermüdeten.
»Nicht ganz. Sie arbeitet auf eigene Rechnung.«
»Sie ist eine Söldnerin?«
»Wenn Sie so wollen.« Obwohl er selbst sie mehrmals so genannt hatte, hatte Julian jetzt fast das Gefühl, Viviana verteidigen zu müssen.
»Das hätte ich nicht vermutet.«
»Ich auch nicht, ich hielt ja schließlich Sie für den Agenten.«
Zu Julians Überraschung lachte Rinaldo leise.
»Ist das komisch?«
»Allerdings, denn können Sie sich einen schlechteren Agenten vorstellen?«
»Es ist eine gute Tarnung.«
»Dass meine Erscheinung eine gute Tarnung sein soll, kann ich nicht recht glauben.«
»Immerhin hält man Sie nicht für einen Agenten.«
»Zu Recht.«
Nach einem Moment des Schweigens sagte Rinaldo: »Ich habe mich immer gefragt, wie schrecklich Vivianas Leben wohl sein musste, dass sie sich so standhaft weigerte, sich daran zu erinnern.«
»Sie glauben, das war der Grund für ihren Gedächtnisverlust?«
»Was sonst?«
Julian wusste es nicht. Er hatte geglaubt, Viviana für immer verloren zu haben. Dann hatte er Emmanuelle Foulaise besser kennengelernt und wider Erwarten Seiten von Viviana in ihr entdeckt. Doch jedes Mal, wenn die Hoffnung wie eine hartnäckige Krankheit wieder in ihm aufkeimte, erinnerte sie ihn daran, wer sie wirklich war. Wie jetzt, wo sie sich mit Thorn gegen ihn verbündet hatte. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in einer so vertrackten Situation gesteckt zu haben. Die einzige Möglichkeit, seinen Namen reinzuwaschen und letztendlich seinen Kopf zu retten, war,
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